"1917"-Kritik: Der Schrecken des Krieges ist zum Greifen nah

1917 George MacKay
Die grandiose Kameraführung vermittelt dem Zuschauer das Gefühl, selbst im Graben zu sitzen. Bild: © Francois Duhamel / Universal Pictures 2019

Sam Mendes legt mit "1917" ein ambitioniertes Projekt vor: Er drehte das Drama in einem Stück, um das Grauen des Ersten Weltkriegs in all seiner Wucht spürbar zu machen. Ob ihm das gelungen ist, erfährst Du in unserer Filmkritik.

Die Story: Eine folgenschwere Nachricht

Nordfrankreich, April 1917: Die britischen Soldaten Blake (Dean-Charles Chapman) und Schofield (George MacKay) werden zu General Erinmore (Colin Firth) zitiert. Sie erhalten den Sonderauftrag, eine Nachricht an die Front zu überbringen. Der geplante Angriff eines britischen Bataillons auf die Deutschen muss umgehend abgebrochen werden, da es sich um einen Hinterhalt handelt. Vor allem für Blake ist diese Aufgabe eine Herzensangelegenheit, sein Bruder ist Leutnant bei der betreffenden Einheit. Zu Fuß und mitten durch feindliches Gebiet machen sich Blake und Schofield auf, um das Bataillon von 1.600 Soldaten zu retten.

Sam Mendes und Roger Deakins, das Dreamteam

Sam Mendes hat mit "1917" ein technisches Meisterwerk geschaffen. Wo andere Regisseure den Horror des Kriegs mit schnellen Schnitten, feuerwerksartigen Explosionen und der expliziten Darstellung von abgerissenen Körperteilen greifbar machen wollen, nimmt sich Mendes bewusst zurück. Mehr noch: Er verzichtet komplett auf Schnitte – zumindest vordergründig.

Sam Mendes kündigte im Vorfeld an, "1917" als One-Take zu drehen; also den Film so wirken lassen, als sei er ohne Schnitte zustande gekommen. Die Umsetzung ist ihm und seinem Kameramann Roger Deakins nahezu perfekt gelungen. Das Duo hat schon mehrfach erfolgreich zusammengearbeitet: "Jarhead – Willkommen im Dreck" (2005), "Zeiten des Aufruhrs" (2008) und "James Bond 007: Skyfall" (2012) haben die beiden ebenfalls gemeinsam realisiert.

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Sam Mendes gibt seinen beiden Hauptdarstellern Regieanweisungen. Bild: © François Duhamel / Universal Pictures 2019
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Regisseur Mendes hat klare Vorstellungen, wie jede Szene ablaufen soll. Bild: © François Duhamel / Universal Pictures 2019
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Organisationstalent gefragt: Die Macher von "1917" mussten beim Dreh ein Heer von Statisten dirigieren. Bild: © François Duhamel / Universal Pictures 2019
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Kameramann Roger Deakins in seinem Element. Bild: © François Duhamel / Universal Pictures 2019
1917 Sam Mendes
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1917 Kameramann Roger Deakins

Die Schrecken des Krieges

Das Vortäuschen einer durchgängigen Einstellung lässt den Zuschauer das Kriegsgeschehen in "1917" sehr direkt und unmittelbar erleben. Die Kamera folgt den beiden Protagonisten auf Schritt und Tritt, was zu einer enormen Anspannung bei den Zuschauern führt. Wir wissen genauso wenig, welche Gefahren hinter der nächsten Anhöhe oder im nächsten Graben lauern, wie Blake und Schofield selbst. Es stellt sich das Gefühl ein, dass die beiden permanent beobachtet werden und der nächste Scharfschütze schon auf der Lauer liegt. Der Zuschauer hat, anders in vielen anderen Filmen, keinen Wissensvorsprung.

Der Fokus von "1917" liegt auf den beiden Soldaten, die Schrecken des Krieges werden über sie transportiert: Während Blake und Schofield, immer auf der Lauer, das Niemandsland an der Front durchqueren, steigen sie über verrottende Pferdekadaver und die Leichen von Soldaten, die in den vielen Krater verteilt liegen. In den Gesichtern der jungen Männer sind Ekel und Fassungslosigkeit zu erkennen. Den einzigen Wissensvorteil, den wir Zuschauer haben: Solche Bilder werden die beiden noch öfter zu sehen bekommen, das Ende des Ersten Weltkriegs ist vorerst nicht in Sicht.

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Blake und Schofield kämpfen sich durch feindliches Gebiet. Bild: © François Duhamel / Universal Pictures 2019
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Ein verlassener Bauernhof entpuppt sich als Schauplatz einer Tragödie. Bild: © François Duhamel / Universal Pictures 2019
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Hinter jeder Erhöhung und in jedem Graben kann der Feind lauern. Bild: © François Duhamel / Universal Pictures 2019
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George MacKay Dean-Charles Chapman

Und Cut! Clever gesetzte Schnitte

"1917" wirkt weitestgehend tatsächlich so, als sei das Kriegsdrama am Stück gedreht worden. In einer Szene ist ein Schnitt offensichtlich, aber clever eingesetzt, und bei genauer Betrachtung fallen dem Zuschauer viele weitere Schnitte auf. Die sind aber extrem unauffällig – ein Verdienst von Lee Smith, der für den Schnitt verantwortlich zeichnet. Mal fährt die Kamera sehr dicht an einem Baum vorbei, mal drängt sich ein Soldat zwischen die Protagonisten und die Kamera. Ein sicheres Indiz, dass es an dieser Stelle einen Cut gab.

Welche logistischen Herausforderungen das Filmteam bei den Dreharbeiten bewältigen musste, haben Sam Mendes, Roger Deakins und die Darsteller in einem vorab veröffentlichten Featurette erzählt. Besonders beeindruckend sind die Details zur Kameraführung: Teilweise wurde die Cam an einem Kran geführt, mitten in einer Szene von Kameramann Deakins aus der Halterung genommen und anschließend wieder eingehängt. Eine echte Meisterleistung.

Schauspieler top, Charaktere ... naja

Mit Mark Strong, Benedict Cumberbatch, Andrew Scott und Colin Firth hat sich Sam Mendes für "1917" einige der besten britischen Schauspieler an Bord geholt. Aber es sind vor allem Dean-Charles Chapman (Tommen Baratheon aus "Game of Thrones") und George MacKay ("Captain Fantastic: Einmal Wildnis und zurück"), die den Film tragen.

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Colin Firth spielt den General, der den beiden jungen Soldaten den Auftrag erteilt. Bild: © François Duhamel / Universal Pictures 2019
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Mark Strong erweist sich in "1917" als buchstäblicher Retter in der Not. Bild: © François Duhamel / Universal Pictures 2019
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Völlig ausgelaugt und desillusioniert: Andrew Scott als Leutnant Leslie. Bild: © François Duhamel / Universal Pictures 2019
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Oberst Mackenzie (Benedict Cumberbatch) muss am Ende des Films eine folgenschwere Entscheidung treffen. Bild: © François Duhamel / Universal Pictures 2019
1917 Colin Firth
1917 Mark Strong
1917 Andrew Scott
1917 Benedict Cumberbatch

So gut Chapman und MacKay auch spielen: Einer meiner wenigen Kritikpunkte an "1917" ist, dass ihre Charaktere keine wirkliche Tiefe aufweisen. Der Zuschauer erfährt so gut wie nichts über die beiden. Das macht es schwierig, mit ihnen mitzufühlen und mitzuleiden. Ja, Blake hat einen Bruder, den es zu retten gilt. Und Schofield hat einen Orden erhalten, will über die Hintergründe aber nicht reden. Das war es auch schon an Informationen. Ich fühle mich stark an "Dunkirk" erinnert: Fionn Whitehead war als Soldat Tommy super, doch sein Charakter hatte wenig Tiefe.

Auf den Spuren von Hitchcock

"1917" ist natürlich nicht der erste Film, der vorgibt, ohne Schnitte gedreht worden zu sein. Alfred Hitchcock leistete 1948 mit "Cocktail für eine Leiche" Pionierarbeit. 2014 lieferte Alejandro González Iñárritu, offensichtlich großer Fan von Plansequenzen, mit "Birdman" ein weiteres gelungenes Beispiel ab. Dennoch muss ich sagen, dass ich den One-Take-Charakter bisher in keinem Film so bewusst unbewusst wahrgenommen habe wie in "1917".

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George MacKay als Schofield. Bild: © François Duhamel / Universal Pictures 2019
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Gelingt es Schofield, unbemerkt über den Fluss zu kommen? Bild: © Universal Pictures/DreamWork 2019
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Auf Schofields Reise läuft einiges schief. Bild: © François Duhamel / Universal Pictures 2019
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Angriff von von allen Seiten – jetzt heißt es, um sein Leben zu rennen! Bild: © Universal Pictures/DreamWork 2019
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1917 George MacKay
1917 George MacKay

Fazit: Ein modernes Kriegsdrama und fesselndes Meisterwerk

Für mich ist "1917" einer der besten Filme des Jahres – und einer der besten des Genres, der mit knapp 120 Minuten Laufzeit auch nicht unnötig in die Länge gezogen wurde. Technisch ist das Kriegsdrama von Sam Mendes ein Meisterwerk – ein Verdienst von Kameramann Roger Deakins und Cutter Lee Smith. Das intensive Schauspiel von George MacKay und Dean-Charles Chapman macht die mangelnde Charaktertiefe vergessen.

Wer Filme wie "Dunkirk" oder "Der Soldat James Ryan" mag, findet auch an "1917" großen Gefallen. Meiner Meinung nach übertrifft er die beiden Kriegsdramen sogar noch. Abschließender Tipp: "1917" unbedingt zweimal ansehen – und sich beim ersten Mal von der Story und dem authentischen Setting in den Bann ziehen lassen. Beim zweiten Mal darauf achten, wo sich die Schnitte verstecken.

Heimkino-Start
"1917" von Sam Mendes gibt's seit dem 28. Mai 2020 auf DVD, Blu-ray und 4K UHD Blu-ray.

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1917
1917
  • Datenblatt
  • Hardware und software
  • Genre
    Kriegsfilm, Drama
  • Laufzeit
    119 Minuten
  • Release
    16. Januar 2020
  • FSK
    ab 12
TURN ON Score:
4,5von 5
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