Self-Tracking verspricht Optimierung. Brauche ich das? Ein Blick in den Spiegel und auf mein Konto zeigen: Es ist noch reichlich Luft nach oben. Also habe ich das mehrere Tage lang einfach mal ausprobiert.
Klassischer Fehlstart: Die Garmin-Uhr fēnix 3 HR Silver hat meine Schritte nicht gemessen, weil ich etwas falsch eingestellt hatte. Dabei bin ich mindestens doppelt so viel gelaufen wie sonst. Das nervt mich. Aber warum eigentlich? Am Tag zuvor, ohne Self-Tracker, war es mir doch auch noch egal. Die Wahrheit ist: Auch wenn 10.000 Schritte am Tag keinen medizinischen Wert haben, hat mich die Zahl doch so motiviert, dass ich nach jedem Block nachgesehen habe, wie viele Schritte das waren. Ziffer des Tages: Bett–Küche = 9 Schritte.
Immerhin habe ich gut geschlafen, und zwar exakt 7 Stunden und 11 Minuten. Der Schlafsensor Beurer SE 80 SleepExpert unter meiner Matratze lässt mich wissen, dass ich nach 24 Minuten eingeschlafen bin und Leichtschlaf-, Tiefschlaf- und REM-Phase je ein Drittel meines Schlafes ausmachten. Einmal war ich auf der Toilette, und obwohl meine Herzfrequenz erstaunlich niedrig war (45), habe ich die Nacht überlebt – das hätte ich aber auch so gemerkt. Ich habe jedenfalls nicht das Gefühl, dass ich was ändern muss. Aber ich werde weitermessen, weil besser ja immer geht, und vielleicht empfiehlt mir das Gerät irgendwann, dass ich warme Milch mit Honig trinken soll, um schneller einzuschlafen. Die erste Empfehlung lautete jedenfalls: Vor dem Schlafen keinen Alkohol. Okay.
Was fange ich mit Self-Tracking-Daten an?
Tatsächlich ist Self-Tracking ja keine Wunderwaffe. Ich tracke seit fast zwei Jahren meine Finanzen per App. Ich weiß präzise, was ich einnehme und, viel schlimmer, für welchen Unsinn ich Geld ausgebe. Das Problem ist, dass auch nach dieser langen Zeit keine Besserung eingetreten ist. Ich gebe immer noch dasselbe Geld für denselben Kram aus, manchmal sehr hohe Beträge für edlen Gin – im Winter und im Sommer mehr, im Frühjahr und Herbst weniger. Jetzt, wo ich meinen Schlaf messe, müsste ich eigentlich im Langzeitversuch herausfinden, dass ich im Frühjahr und Herbst besser schlafe. Sollte das nicht der Fall sein, kann ich Trinken schon mal als Ursache ausschließen. Wenn das kein Ziel ist.

Denn machen wir uns nichts vor: Ich vermesse mich, weil ich mich verbessern möchte. Und ich kann mich nur verändern, wenn ich die Ausgangswerte kenne. Gut, es gibt ein paar No-Gos: Ich werde nicht auf die Daten reagieren, indem ich morgens zum Frühstück ausschließlich Kaffee mit Butter trinke. Oder mich nur von grünen Smoothies ernähre, schließlich bin ich kein Kaninchen. Dennoch: Das Ziel ist es, mein Privatleben zu perfektionieren. Ich möchte zu einer Person werden, die sich zusammensetzt aus Ernest Hemingway, Stephen Hawking und Wolverine (nein, nicht den Körper von Stephen Hawking, das Gehirn von Wolverine und das Alkoholproblem von Hemingway).
Ist das Gerät kaputt oder bin ich kaputt?
Am zweiten Tag lege ich 9582 Schritte zurück, am dritten 12.366, und am vierten habe ich abends nur 4.631 geschafft und beschließe, noch einen Spaziergang zu machen. Dann zweifle ich: Soll ich wirklich meinen freien Willen einem Algorithmus unterordnen – und fühle mich plötzlich wie der Auserwählte Neo in "Matrix". Ich sehe die Uhr an. Sie sieht unschuldig aus, ich könnte sie ignorieren. Ein paar Sekunden bin ich unschlüssig. Vielleicht setze ich mich auf mein Sofa. Ach, was soll's, der freie Wille ist auch nur eine Illusion, bestimmt von den Umständen und der Biochemie. Ich laufe los und packe mir noch 2956 Schritte aufs Konto.
Zu Hause merke ich, dass meine Herzfrequenz dabei nie über 55 war. Ein 70-jähriger Mann hat etwa 70. Ich erschrecke und überprüfe das Gerät. Ist es kaputt? Technik versagt ja eher selten. Bin ich kaputt?
Ich schaue in den Spiegel und stelle recht schnell fest, dass ich auch schon mal besser aussah. Zeigt nicht meine Armbanduhr an, dass mein Body-Mass-Index (BMI) 29,8 beträgt? Mein Idealgewicht liegt laut BMI irgendwo zwischen 65 und 82 Kilo. Ich wiege 97. Ideal, wenn ich 2,04 Meter groß wäre und nicht 1,80 Meter. Ich habe mir das immer schöngeredet: Die Baumwolle meiner Hose muss wahrscheinlich besonders schwer sein. Andere Leute wiegen sich ja nackt, und bei mir wären es bestimmt dann auch nur 78 Kilo.
Wähle ich die Einstellung "Körperfettanteil" auf meiner Waage, antwortet sie mit "Error", was vielleicht noch frustrierender ist, als fett zu sein. Und jetzt würgt mir auch noch meine Uhr eine rein. Bis ich lerne, die Daten zu lesen, und verstehe, dass auch das Herz ein Muskel ist. Trainiert man den über einen längeren Zeitraum, pumpt er eben mehr Blut in weniger Schlägen. Und Muskeln sind schwerer als Fett. Ich entspanne mich.
Wer trackt, hat die Absicht, sich zu optimieren
Meine Erkenntnis: Self-Tracking-Geräte unterscheiden sich nicht von Klassikern der Weltliteratur. Kauft man sie, suggeriert das, dass man ein Interesse an seiner eigenen Lebensführung hat und jetzt bald anfängt, etwas für sich zu tun.
Nach einer Woche versuche ich meiner Tochter ein Gadget anzulegen, eine Uhr. Per App kann ich dann kontrollieren, wo sie sich aufhält, und ein Gebiet festlegen, in dem sie sich aufhalten darf, ohne dass Alarm geschlagen wird. Zudem kann sie mich damit jederzeit per SOS-Knopf anrufen. "Aha", sagt sie lustlos. Sie will lieber ein richtiges Smartphone. Sie sagt: "Du weißt doch: Wenn jemand kommt, steche ich ihm in die Augen." Ich packe die Uhr wieder ein.
Ich gehe in die Küche. Koche Kaffee, werfe einen Klumpen Butter rein. Einmal mit der Gabel durchgerührt, schmeckt widerlich, noch mal durchrühren, immer noch gruselig. Ich denke: "Gar nicht so übel." Morgen zeig ich's der Uhr, übermorgen der Waage.