Im Jahr 1986 ereignete sich eine der schlimmsten von Menschenhand verursachten Katastrophen: Reaktor 4 des Atomkraftwerks von Tschernobyl flog in die Luft. HBO und Sky haben die Story in einer Miniserie verarbeitet, die wir uns vor TV-Start ansehen durften. Ob sich "Chernobyl" lohnt, verrät unsere Kritik.
Eines vorweg: Mich selbst gab es am 26. April 1986 noch nicht. Zumindest noch nicht auf der Welt, meine Mutter war mit mir schwanger. Die Tschernobyl-Katastrophe kenne ich also nur aus dem Geschichtsunterricht und von den Erzählungen meiner Familie. Daher weiß ich, dass meine Mutter eine Zeit lang auf Milchprodukte und Gemüse verzichtet hat. Und wenn sie die doch gegessen hat, hat sie sehr darauf geachtet, woher die Produkte kamen. Das alles ist aber nicht wirklich greifbar für mich gewesen – was sich mit Anschauen der Miniserie "Chernobyl" schlagartig geändert hat.
- Diesen Tag im April wird niemand vergessen
- Die Gefahr kommt schleichend
- Der Sowjetunion passieren keine Fehler!
- Ahnungslosigkeit, wohin das Auge reicht
- Dieser Cast ist preisverdächtig
- Fazit
Diesen Tag im April wird niemand vergessen
Was im April 1986 passiert ist, weiß wohl jeder: Der 4. Reaktor des Kernkraftwerks von Tschernobyl flog infolge eines gescheiterten Sicherheitstests in die Luft. Die Serie setzt auf den Tag genau zwei Jahre nach der Katastrophe ein und rückt Valery Legasov (Jared Harris) in den Mittelpunkt.
"Was ist der Preis von Lügen? Es ist nicht, dass wir sie für wahr halten. Die wirkliche Gefahr ist, dass wenn wir genug Lügen hören, wir die Wahrheit nicht mehr erkennen." Mit diesen Worten wird der Kernphysiker Legasov eingeführt – sie sind ein Vorbote dessen, was den Zuschauer in den folgenden fünf Stunden erwartet.
Die Katastrophe von Tschernobyl hat vor allem gezeigt, wie sehr die damalige Regierung der Sowjetunion versuchte, die Gefahr herunterzuspielen und unter den Teppich zu kehren. Ein Lügenkonstrukt sollte die umliegenden Staaten und die eigene Bevölkerung täuschen.
Die Gefahr kommt schleichend
Nach dem Exkurs ins Jahr 1988 springt die erste Episode der Serie zurück zur Katastrophe selbst. Der Moment der Explosion sowie die ersten Handlungen direkt im Anschluss. Ebenso werden die ersten Löschversuche der Feuerwehr gezeigt. Dass sich die Männer in Lebensgefahr befinden, ahnt zu diesem Zeitpunkt niemand. Einsatzleiter schicken ihre Mitarbeiter noch näher an den Ort des Geschehens, es handle sich schließlich nur um ein Feuer. Was soll da schon groß passieren? Es sind Szenen, in denen wir die Feuerwehrmänner mit offenen Wunden an den Händen sehen, die mich schaudern lassen. Ich habe einen Wissensvorteil und weiß, wieso sie solche Schmerzen erleiden. Es sind Szenen, in denen ich alle Beteiligten anschreien möchte.
Dann zieht es Schaulustige auf eine Brücke in der Nähe. Die Bewohner von Prypjat, wenige Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt, suchen sich hoch gelegene Plätze, von denen aus sie einen besonders guten Blick auf das Inferno haben. Nicht wissend, dass sie dem sicheren Tod ins Gesicht blicken. Wie wir im Abspann erfahren, hat niemand der Schaulustigen überlebt. Heute ist das Bauwerk als "Brücke des Todes" bekannt.
Der Sowjetunion passieren keine Fehler!
Schnell wird klar: In "Chernobyl" geht es vor allem um die Helden der Katastrophe und ihre Opfer. Und um das kollektive Versagen der sowjetischen Regierung. Um jeden Preis will sie ihr Image in der Welt aufrechterhalten. Ein Fehler dieses Ausmaßes unterläuft schließlich nicht einer Weltmacht.
Es ist erschreckend anzusehen, wie die Bevölkerung wissentlich hinters Licht geführt wird. Obwohl Wissenschaftler wie Legasov oder Ulana Khomyuk (Emily Watson) aufzeigen, wie gravierend die Lage ist und welcher Gefahr die Bewohner ausgesetzt sind, wird zunächst nicht gehandelt. Eine Evakuierung kommt nicht infrage. Den umliegenden Staaten wird ein kleiner Zwischenfall im Kernkraftwerk kommuniziert, es sei aber alles unter Kontrolle und man habe nicht zu befürchten. Austretende Strahlung? Gibt es nicht!
Ahnungslosigkeit, wohin das Auge reicht
Drehbuchautor Craig Mazin hat für "Chernobyl" einen wissenschaftlichen Fokus gewählt, stößt den Zuschauer aber nie durch zu viel vorausgesetztem Fachwissen vor den Kopf. Legasov agiert als hilfreicher Mittelsmann, der die physikalische Komplexität verständlich macht. Das Ausmaß der Ahnungslosigkeit, die unter allen Beteiligten der Tschernobyl-Katastrophe herrscht, erreicht gegen Ende seinen Höhepunkt: Ob auf Regierungsebene oder direkt in der Schaltzentrale des Kernkraftwerks – man wird das Gefühl nicht los, dass viele gar nicht wissen, mit was sie da hantieren.
Dieser Cast ist preisverdächtig
Craig Mazin und Regisseur Johan Renck haben mit ihrem Cast voll ins Schwarze getroffen – allen voran mit Jared Harris, Stellan Skarsgård und Emily Watson. Während es die männlichen Protagonisten damals wirklich gegeben hat, ist Ulana Khomyuk, die von Watson gespielt ist, ein fiktiver Charakter. Khomyuk steht stellvertretend für die sogenannten Liquidatoren, die sich geopfert haben, um die Strahlung am Ort des Geschehens einzudämmen. Und sie steht stellvertretend für all die Wissenschaftler, die akribisch nach einer Lösung gesucht haben, um Schlimmeres zu verhindern. Schließlich bestand nach wie vor die Gefahr von weiteren Explosionen und es drohte, dass radioaktives Material ins Grundwasser sickerte.
Fazit: Menschliche Abgründe, die kaum auszuhalten sind
"Chernobyl" ist definitiv keine Serie für einen unterhaltsamen Binge-Marathon. Im Gegenteil: Mehr als einmal hat sie bei mir für ein komisches Gefühl in der Magengegend gesorgt. Zum einen liegt das an der zum Teil sehr expliziten Darstellung der Opfer, deren Haut sich buchstäblich auflöst. Zum anderen liegt das an den menschlichen Abgründen, die in der Serie zutage treten – beispielsweise wenn hohe Regierungsmitglieder die Gefahr verschweigen und den Tod Tausender Menschen billigend in Kauf nehmen.
Die Helden sind die Arbeiter, das macht "Chernobyl" an vielen Stellen deutlich. Viele von ihnen haben ihr Leben unwissentlich geopfert – wie die Feuerwehrmänner und Krankenschwestern, die die unter anderem schwer verseuchte Kleidungsstücke wegräumen mussten. Und dann sind da noch die, die sich wissentlich in tödliche Gefahr begeben haben, um andere Menschen zu retten.