Jahrelang umgab "Cyberpunk 2077" von CD Projekt Red der Schein des ambitioniertesten Open-World-Rollenspiels aller Zeiten. Ich habe es auf der PS5 getestet, um herauszufinden, ob irgendwo unter all dem Neon tatsächlich ein gutes Videospiel steckt.
Nach etwa acht Jahren Entwicklungszeit und mehreren Verschiebungen ist "Cyberpunk 2077" für PC und Konsolen erschienen und meine Spannung war groß. Die Entwickler versprachen Immersion, maximale Freiheit, sogar von zerstörbarer Umgebung und einem Multiplayer-Modus war einst die Rede. Von vielem ist man abgerückt, manchmal muss man sagen: zum Glück. An vielen Stellen wird dem Game sein Hype aber in der Release-Version auf Konsolen trotzdem zum Fluch.
Die Story – Willkommen in Night City
"Cyberpunk 2077" spielt in der nahen Zukunft und einer überzeichneten alternativen Realität: Der Moloch Night City ist groß, übervölkert (dazu später noch mehr), dreckig und bunt. Gigantische Konzerne und korrupte Politiker beherrschen die Welt aus den oberen Stockwerken ihrer Wolkenkratzer, zwischen denen sich die Bevölkerung am Boden im Kampf um Neonklamotten, Cyber-Implantate, Sex, Drogen und das nackte Überleben an die Gurgel geht.
Die Spielfigur namens V ist ein Edgerunner, eine Art freiberuflicher Handlanger, der verschiedenste halblegale Angelegenheiten für die Fixer der Stadt und deren Kunden erledigt – natürlich nur gegen harte Eurodollars. Nach einem schiefgegangenen Job steht Vs Leben auf dem Spiel: Sie muss einen Weg finden, der digitalisierten Persönlichkeit des verstorbenen Rockstars und Möchtegern-Revoluzzers Johnny Silverhand zu helfen. Dabei stehen ihr skrupellose Konzerner und die zahlreichen Gangs von Night City im Weg.
"Cyberpunk 2077" profitiert sehr von Schauspieler Keanu Reeves, der als nerviges Ekelpaket Johnny Silverhand im Kopf von V herumspukt. Johnny stellt die bunte Neonwelt immer wieder in Frage und erweitert mit seinen ungebetenen Kommentaren und fragwürdigen Ansichten die Perspektive auf die Spielwelt. Generell sind viele Nebencharaktere im Spiel gut geschrieben, besitzen Tiefe und glaubhafte Motivationen. Durch Dialogoptionen oder verschiedene Handlungen lässt sich der Ausgang beeinflussen, etwa ein halbes Dutzend verschiedene Enden sind freispielbar.

Als Vorlage für das Game dient "Cyberpunk 2020", ein Pen-and-Paper-Rollenspiel von Michael Pondsmith, dessen Dystopie auf der Cyberpunk-Literatur von Autoren wie William Gibson basiert. Wer die Vorlage kennt, nimmt in der Kampagne von "Cyberpunk 2077" vertraute Untertöne wahr: Die Protagonisten schwanken ständig zwischen Hedonismus, Nihilismus, Fatalismus oder dem Drang nach gewalttätiger Revolution. Aber diese Töne bleiben leise: Das Spiel bemüht sich zwar punktuell darum, mehr zu bieten als leichte Unterhaltung, aber leider traut es sich zu wenig. Pondsmiths Original ist mutiger.
Aber ich mag die Geschichten, die "Cyberpunk 2077" erzählt – sie sind das Beste an diesem Spiel. Viele Charaktere fühlen sich organisch an und im Verlauf greifen die Erzählungen verschiedener Handlungsstränge ineinander, ohne den Eindruck zu vermitteln, als geskriptete Ereignisse eines Computerspiels aufeinander zu folgen. Die Hauptstory hat Herz und ihre Figuren Bedeutung, hier kann CD Projekt Red bekannte Stärken voll ausspielen.
Die Bugs – alles dabei
Der unfertige Zustand des Spiels ist zum Release das vorherrschende Thema. Ich habe "Cyberpunk 2077" auf der PS5 getestet, nachdem ich mir die Performance auf unterschiedlichen Systemen angesehen hatte. CD Projekt Red gab an Tester ausschließlich PC-Versionen aus – aber ich wollte wissen, wie das Spiel für Konsolenspieler aussieht, von denen viele das Game vorbestellten, obwohl erst Tage vor Release Xbox- und PlayStation-Gameplay gezeigt wurde.

Die Konsolenversion wurde zum Release offenbar kaum optimiert. "Cyberpunk 2077" ist auf der PS4 praktisch unspielbar und auf PS5 von Fehlern durchsetzt. Ich habe beim Spielen alles Erdenkliche an Bugs und Glitches erlebt: eingefrorene Gegner, durchsichtige Figuren, schwebende Objekte, umherfliegende NPCs, clippende Spielcharaktere, sich überlappende Dialoge, fehlende Lippenbewegungen. Zum jetzigen Zeitpunkt sind auch Komplettabstürze auf PS5 die Regel – meist, wenn das Spiel nach einem Kampagnenabschnitt wieder in die Open World wechselt. Zu allem Überfluss werden dann alle Spieleinstellungen wie Sprache, Untertitel, HDR und Grafik-Optionen zurückgesetzt.
Die Open World – Die Fassade bröckelt
Die Spielwelt von "Cyberpunk 2077" ist liebevoll mit Details angereichert: Ich kann Gespräche auf den Straßen belauschen, Essensstände bieten seltsame Snacks an, Notizen, Bücher und Nachrichten geben einen tieferen Einblick in die Welt im Jahr 2077. Night City ist groß und es gibt vieles zu entdecken. Die Map füllt sich nach dem Prolog schnell mit Markern – neben der Kampagne haben Open-World-Fans hier unglaublich viel zu tun. Ein Großteil der Nebenmissionen ist zudem so gut geschrieben, dass ich mich von ihnen viel zu gerne von der Hauptkampagne ablenken lasse, die für den Test im Fokus stand.
Aber die Fassade bröckelt schnell. Bei vielen Problemen mit der Open World handelt es sich augenscheinlich weniger um Bugs, sondern um handwerkliche Mängel: Der Straßenverkehr von Night City etwa ist dünn – so dünn, dass er nicht zum Szenario der überbevölkerten Megacity passt. Die Autos stehen auf den Straßen häufig komplett still, weil zum Beispiel ein Wagen quer auf einer Kreuzung parkt. Auch die Zahl der Fußgänger ist auf PS5 deutlich niedriger als in der PC-Version, die gigantische Stadt wirkt meist wie verlassen.
Spreche ich Passanten von hinten an, antworten sie, ohne sich dabei zu mir umzudrehen oder ihre Routine zu verändern. NPCs verschwinden außerdem oft im Nichts und haben auffällig viele Doppelgänger. Polizisten teleportieren sich direkt neben mich, wenn ich Chaos stifte, während die Zivilbevölkerung wie bei einer Katastrophenübung auf den Boden kauert. Drehe ich mich dann um und schaue wieder hin, sind sie alle verschwunden. Vieles sieht gleich aus – die Erscheinung von Reklameschildern, Autos und Passanten wiederholt sich auf der PS5 ständig. Lebensecht oder wenigstens lebendig wirkt "Cyberpunk 2077" im Test leider nicht.

Das Gameplay – Systemkritik
In "Cyberpunk 2077" kann ich meine Spielfigur selbst gestalten – einerseits durch den Charaktereditor zu Beginn des Spiels, andererseits über ein Levelsystem, das über Attribute wie Intelligenz und Konstitution und untergeordnete Fähigkeiten funktioniert, die ich nach und nach freischalte. Cyberimplantate und Kleidung geben weitere Boni, sodass jeder Spieler die Freiheit hat, seine Spielfigur beliebig zu spezialisieren.
Aber: Obwohl Style und Aussehen eine zentrale Rolle in der Welt von "Cyberpunk 2077" spielen, läuft meine V meist herum wie der letzte Clown. Der Grund: Ein dünner Flanelloverall bietet schon mal einen höheren Rüstungswert als eine stylische Lederjacke, neonpinke Sneaker schützen mitunter mehr als Stahlkappen-Stiefel. Schnell achte ich gar nicht mehr auf den Style von V, sondern loote und kaufe nur noch nach angezeigtem Höchstwert. Das passt überhaupt nicht zur Spielwelt und bricht die Immersion.

Die Hauptkampagne von "Cyberpunk 2077" wirkt sehr linear und bezieht die Open World wenig ins Gameplay ein. Dabei ist sie kaum innovativ: Natürlich ist die klassische Verfolgungsjagd mit dabei, bei der ich Motorräder aus dem Beifahrerfenster abschieße, die nach wenigen Treffern explodieren. Oder ich muss aus dem obersten Stockwerk eines Wolkenkratzers entkommen und mich dabei durch die Stockwerke abwärts durchschlagen, -schießen oder -schleichen. Immer wieder wirkt die Kampagne von "Cyberpunk 2077" wie ein Action-Adventure, das die Open World nicht braucht.
"Cyberpunk 2077" spielt sich durch die Egoperspektive wie eine Mischung aus Shooter und Action-Rollenspiel. Als Vergleichspunkte kommen mir "Deus Ex: Mankind Divided" oder "Fallout" in den Sinn. Es lässt sich stets frei wählen, ob ich Konflikte schleichend, schießend oder hackend angehe, die Umgebung bietet dafür jede Menge Möglichkeiten. Auseinandersetzungen mit Gegnern lassen sich beispielsweise vermeiden, indem ich Sicherheitskameras oder Alarmsysteme lahmlege. Das Hacken erinnert an die "Watch Dogs"-Reihe, bietet aber ein paar mehr Möglichkeiten. Ich habe mir den Weg meist freigeschossen – aber auch eine Mischung ist kein Problem.

Das Gunplay von "Cyberpunk 2077" ist solide und bringt Spaß. Es stehen viele verschiedene Waffentypen zur Auswahl, von der abgesägten Schrotflinte über Maschinenpistolen mit zielsuchenden Kugeln bis hin zu Katanas oder Wurfmessern. Zudem bieten Waffenmods weitere Flexibilität. Diese Bandbreite ist für mich einer der wichtigsten Gründe für einen erneuten Spieldurchgang. Dafür werde ich auf das PS5-Upgrade warten, das dann hoffentlich die adaptiven Trigger des DualSense ins Spiel bringt.
Braindance – düsteres Suchspiel
An einigen Stellen der Kampagne muss ich in aufgezeichneten Erinnerungen namens "Braindance" nach Hinweisen suchen, ähnlich wie in "Detroit: Become Human". Dabei kann ich die Ereignisse vor- und zurückspulen und muss verschiedene Hinweise im dreidimensionalen Raum finden. Auf einer Zeitleiste werden Bereiche markiert, in denen diese Anhaltspunkte versteckt sind. Die digital verzerrte Darstellung ist eine Stecknadelsuche im düster stilisierten Cyber-Heuhaufen. Die fummeligen Suchspiele kamen mir wie Zeitverschwendung vor, die mich von der Erkundung der Welt von "Cyberpunk 2077" abhält – erst recht, als sich später herausstellte, das einige Hinweise, die ich nicht finden konnte, für den Abschluss gar nicht nötig sind. Zum Glück kommt Braindance nicht zu oft im Spiel vor.
Zu viel
In "Cyberpunk 2077" steckt eine Menge gutes Gameplay, aber wenig davon ist außergewöhnlich. Es bietet zwar deutlich mehr Möglichkeiten zur Charakterentwicklung als andere Games, setzt sich insgesamt aber hauptsächlich durch sein Szenario und die bessere Story ab.

CD Projekt Red hat sich viel vorgenommen: "Cyberpunk 2077" ist gleichzeitig ein lineares Action-Adventure und ein gigantisches Open-World-Spiel – Gott sei Dank ist es nicht auch noch ein Multiplayer-Game geworden. Viele Systeme sind komplex, werden aber eigentlich gar nicht gebraucht – etwa das Crafting, das im Grunde komplett ignoriert werden kann. Das Spiel wirkt auf mich manchmal wie ein Restaurant, das von Pommes bis Vietnamesisch alles auf der Speisekarte hat, anstatt sich auf wenige Spezialitäten zu konzentrieren.
An der Entwicklung von "Cyberpunk 2077" haben viele Menschen über Jahre sehr hart gearbeitet. Missmanagement und hemmungslos geschürte Erwartungen bei Investoren und Fans sorgen nun wohl dafür, dass ihnen weitere harte Monate bevorstehen. Wir Spieler sollten daraus lernen. Es hat einen Grund, warum einige Studios sich lange in Geheimniskrämerei üben, bevor sie Gameplay zeigen oder über den Umfang ihrer Spiele sprechen. Auch, wenn weniger Vorbestellungen die Folge sind.
Fazit

Auch wenn es nicht danach klingt: Vieles an "Cyberpunk 2077" gefällt mir sehr gut. Aber ich muss mir eingestehen, dass das Spiel überambitioniert ist. Auch ohne Bugs und fehlende Optimierung für Konsolen wäre "Cyberpunk 2077" nicht bahnbrechend. Als Fan der Vorlage erwärme ich mich für die Atmosphäre, die hin und wieder durchscheint und der Literatur sowie dem Pen-and-Paper-Rollenspiel ähnelt.
"Cyberpunk 2077" ist ein gutes Konsolenspiel mit ordentlicher Grafik, das viele Stunden spaßiger Beschäftigung bietet, aber es erfindet das Rad nicht neu. Scharfe Sozialkritik, eine lebendige und autonom funktionierende urbane Open World mit glaubhaften Figuren und Nebencharakteren, dazu eine filmreife Story? "GTA 5" hatte all das schon 2013 zu bieten. Wer mehr Sci-Fi-Dystopie sucht, findet sie auch in "Watch Dogs Legion" oder "Deus Ex: Mankind Divided".
In Michael Pondsmith's "Cyberpunk 2020" aus dem Jahr 1988 beschreibt er die scheinheilige Welt von Night City mit dem Satz "Style over substance". Als Fan der Vorlage finde ich es bedauerlich, aber auch die Videospielumsetzung von CD Projekt Red bietet zu ihrem Release bestenfalls "mehr Glanz als Substanz".
Das hat mir gut gefallen | Das hat mir weniger gut gefallen |
+ Gut geschriebene Figuren | - Kaum für Konsolen optimiert |
+ Viele versteckte Details | - Open World kann nicht überzeugen |
+ Vielfältige Waffen | - Teils nutzlose Spielmechaniken |