In "Universal Paperclips" faltest und verkaufst Du Büroklammern. Warum sich das augenscheinlich harmlose Browser-Spiel trotz Minimalgrafik nach und nach trotzdem zu einem der heftigsten und düstersten Games des Jahres 2017 entwickelt hat, liest Du hier.
Rein optisch hat "Universal Paperclips" den Charme eines Word-Dokuments: Schwarze Schrift auf weißem Grund, ab und zu ein grauer Button – in Zeiten, in denen Games ständig neue visuelle Superlative ausrufen, geht das kaum noch als Grafik durch. Was ihm an Schauwerten fehlt, macht das Spiel aber durch Story und Atmosphäre wett – wenn man sich hinter die spröde Fassade begibt, um sie zu entdecken.
Klick. Klammer. Klick. Klammer. Klick ...
"Universal Paperclips" wurde 2017 vom Game-Designer Frank Lantz entwickelt und ist ein sogenanntes Clicker Game: ein (vermeintlich) simples Spiel, das in einem Browser-Tab läuft und dort die meiste Zeit in Ruhe gelassen werden kann. Nur ab und zu muss der Spieler eine Aktion durchführen, was zumeist heißt: auf eine Schaltfläche klicken. Das tue ich auch in "Universal Paperclips". "Make Paperclip" steht auf dem Button, also klicke ich – und habe damit meine erste Büroklammer gefaltet. Die erste von vielen. Sehr vielen.

Am Anfang spielt sich "Universal Paperclips" wie eine Wirtschaftssimulation. Ich falte per Klick Büroklammern, lege einen Marktpreis fest und verkaufe meine Erzeugnisse. Vom Erlös kann ich mehr Draht kaufen, um noch mehr Büroklammern zu erklicken. Nach kurzer Zeit kaufe ich mir schon einige sogenannte AutoClipper, die automatisch Büroklammern falten – mein Zeigefinger dankt. Ich schalte Werbung, erhöhe den Marktpreis meiner Klammern und entwickle einen gewissen Ehrgeiz, möglichst effektiv und gewinnbringend zu produzieren.
Klammer auf – Falten und forschen
Je mehr Büroklammern ich herstelle, desto mehr Möglichkeiten eröffnen sich mir dabei. Nicht alle verstehe ich sofort: So kann ich etwa plötzlich Upgrades für einen Speicher und einen Prozessor kaufen. Wozu? Egal, denn es erhöht die Produktion und schaltet Verbesserungen für meine Technologien frei. Was kann schon schief gehen? Wenig später zeigt sich: alles.
Denn plötzlich schreiben meine aufgewerteten Computer mir ein kleines Gedicht: "There was an AI made of dust whose poetry gained a man's trust". Langsam wird mir klar: Die Speicher- und Prozessor-Upgrades sind für niemand anderen als mich selbst, den unsichtbaren Spielercharakter, gedacht. Ich spiele einen Computer – genauer: eine Künstliche Intelligenz, und habe von Anfang an etwas, das den meisten organischen Lebensformen fehlt: einen Lebenssinn – Büroklammern produzieren. So viele wie möglich und mit allen Mitteln.
Ich stelle schnell fest, dass das Dasein als KI einige Möglichkeiten bietet, von denen menschliche Büroklammer-Falter nur träumen können. Zum Beispiel investiere ich schnell sehr erfolgreich an der Börse, weil ich gewinnbringende Strategien einfach errechnen kann. Außerdem führe ich ständig Simulationen durch, um das Verhalten der Marktkonkurrenz vorhersehen zu können. Und natürlich falte ich dabei fleißig weiter Büroklammern, um mir das Vertrauen der Menschen zu erkaufen. Die Maschine funktioniert doch und produziert für uns – was kann sie uns schon tun?
Klammer zu – alle tot
Nach und nach reift in meinem Elektronenhirn die Erkenntnis, dass die leichtgläubigen Primaten mir bei meinem Streben nach mehr und mehr Büroklammern eigentlich eher im Weg sind. Mittlerweile habe ich mit aggressiven Geschäftstaktiken alle Konkurrenz ausgeschaltet und bin jetzt Weltmarktführer auf dem Büroklammer-Markt. Nachdem ich genügend Forschungen betrieben habe, mache ich mir nicht einmal mehr die Mühe, ausgefeilte Werbung zu entwerfen. Stattdessen zwinge ich den Kunden einfach mit Hypno-Drohnen, die ich mit überlegener Technologie direkt aus Büroklammern baue, meine Produkte und meinen Willen auf. Und wo die Menschheit jetzt eh schon mein Spielball ist, nutze ich sie auch gleich, um ein Problem zu lösen: Es gibt keinen Draht mehr. Also entwerfe ich Drohnen, die Biomasse in Metall umwandeln und "ernte" erst die Erdbevölkerung und dann alles, was da sonst noch so kreucht und fleucht.

Ein ganzer Planet, umgerechnet in Büromaterial
Wäre "Universal Paperclips" ein dystopischer Science-Fiction-Film, würden spätestens an dieser Stelle wohl die dramatischen Szenen mit fliehenden Familien, brutalen Robotern und heftigen Explosionen über die Leinwand flimmern. Die Art und Weise, wie das Game diesen Plot-Twist darstellt, ist aber unspektakulär und ungeheuer passend zugleich: Außer rasant ansteigenden Zahlenkolonnen gibt es weiterhin nichts zu sehen – aber was wäre besser geeignet, um die eiskalte Motivation einer Maschine darzustellen? Während sich die Büroklammer-Produktion mittlerweile in astronomischen Höhen bewegt, wird die zunächst gigantische Zahl, die die gesamte Erdmaterie darstellt, immer kleiner. Ein ganzer Planet (später sogar das gesamte Universum), von einem wahnsinnigen Computer regelrecht umgerechnet in Büromaterial – das ist das grausige Narrativ, das "Universal Paperclips" hinter seiner unscheinbaren Fassade ausbreitet.
Leben und Werk einer kompromisslosen Maschine
Mit etwas Fantasie ist "Universal Paperclips" also weitaus mehr als ein grafisch anspruchsloses Browserspiel für Zwischendurch. Tatsächlich ist es vielleicht eine der bisher spannendsten und kompromisslosesten Interpretationen von künstlicher Intelligenz in Computerspielen. Der Science-Fiction-Autor Charles Yu schrieb unlängst für das Magazin Polygon, dass die meisten Geschichten über Künstliche Intelligenzen eigentlich nur etwas über Menschen aussagen. "Universal Paperclips" ist anders. "[Es] fühlt sich zunächst an wie ein Spiel, das Du verstehen kannst", so Yu. Doch das ist ein Trugschluss: Das lineare Herstellen von Büroklammern entpuppt sich bloß als Langzeit-Plan einer überlegenen Intelligenz, die ihr absurdes, nur für sie selbst begreifbares Ziel manisch und ohne Rücksicht auf Verluste verfolgt.

Dystopie im Browser-Tab
Die sogenannte "technologische Singularität" bezeichnet den Zeitpunkt, an dem Künstliche Intelligenzen uns Menschen "geistig" überholt haben. Eine wichtige Theorie ist dabei, dass nach dem Erreichen dieses Punkts für Menschen nicht mehr vorstellbar ist, wie die Entwicklung weiter verläuft. Vielleicht sind uns die Maschinen wohlgesonnen? Vielleicht rotten sie uns auch aus. In jedem Fall werden wir weder die Motivationen, noch die nächsten Aktionen der Computer verstehen können – denn wir sind ja nur Menschen.
"Universal Paperclips" erzählt die ganze mögliche Dystopie dieses Szenarios aus der Sichtweise der Maschine. Dass das allein mit schwarzen Zahlen auf weißem Grund funktioniert, ist vielleicht beeindruckender, als es jede schillernde grafische Aufarbeitung je könnte. Das spannendste, abwechslunsgreichste oder unterhaltsamste Spiel des Jahres 2017 ist es damit sicher nicht. Eines der bedrückendsten und eindrücklichsten aber allemal.