"Red Dead Redemption 2" versucht in vielerlei Hinsicht, die Wirklichkeit naturnah nachzubilden – und das ist Fluch und Segen zugleich. Während des Zockens habe ich vor allem auf den Realismus im Spiel geachtet und musste feststellen, dass er dem Spiel enormen Tiefgang verleiht, manchmal aber einfach nur nervt.
"Red Dead Redemption 2" überzeugt mit einer tollen Story, gut geschriebenen Charakteren und einer riesigen Welt, die es zu entdecken gilt. Dazu steckt es voller liebevoller Details, die ihm einen enorm hohen Grad an Realismus verleihen. Von Kritikern wird diese Wirklichkeitsnähe der Spielwelt hoch gelobt und auch mich hat sie, besonders in den ersten Stunden, total umgehauen.
Mit der Zeit musste ich aber auch die Schattenseiten von Rockstars Realitäts-Fanatismus kennenlernen: Manchmal sorgt die Nähe zur Wirklichkeit bei mir für zusätzliche Immersion, an anderen Stellen reißt sie mich aber auch total aus dem Spiel heraus.
Immersion durch Realismus – wo "RDR2" beeindruckt
Realistische Darstellungen tragen für mich in "Red Dead Redemption 2" immer dann zur Immersion bei, wenn sie ungezwungen sind und den Spielverlauf nicht behindern. Dies funktioniert bei der Interaktion mit Tieren und der Jagd besonders gut und verleiht dem Spiel zusätzliche Tiefe.

Allein der Fakt, dass es in "Red Dead Redemption 2" knapp 200 unterschiedliche Tierarten gibt, lässt es glaubwürdiger als jedes andere Open-World-Spiel erscheinen. Das liegt aber nicht nur an der Artenvielfalt: Auch das Verhalten der Fauna ist genau so, wie ich es von echten Tieren erwarte.
Hasen sind schreckhaft und ergreifen schon beim Klang von Pferdehufen die Flucht. Größere Tiere wie Elche, Bären oder Wölfe lassen sich nicht so leicht verscheuchen und stellen sogar eine echte Gefahr dar. Es wurde selbst daran gedacht, dass Fische bei Regen an der Oberfläche schwimmen, weil sie den Regen für Insekten halten. Gerade solche unscheinbaren Details ziehen mich komplett in die Spielwelt.
Bei der Jagd verhält es sich ähnlich. Tiere reagieren je nach Größe und verwendetem Kaliber unterschiedlich auf Treffer. Ein unplatzierter Pfeil richtet nur wenig Schaden an und lässt das Tier prompt die Flucht ergreifen. Die doppelläufige Flinte überzeugt dagegen mit ihrer Wucht, wirft kleinere Tiere um und verletzt sie schwer. Die Feuerkraft hat aber ihren Preis: Große Einschusslöcher mindern natürlich die Qualität der Haut und drücken beim Verkauf den Preis enorm nach unten.
Das Häuten von Tieren wird im Spiel in voller Gänze als Animation dargestellt. Das ist meiner nach besonders gut gelungen und in seiner ganzen Unappetitlichkeit auch nötig: Der brutal anzusehende Prozess zeigt mir, wie mühselig, roh und anstrengend das Leben vor knapp 100 Jahren noch war.
Dreckige Kleidung und gepflegte Bärte
Auch bei allen Dingen, die Arthurs Aussehen betreffen, verleiht der Realismus dem Spiel mehr Tiefe. Besonders faszinierend finde ich den Einfluss der Umwelt auf Arthurs Aussehen: Wähle ich die falsche Kleidung, fängt Arthur je nach Wetter an zu schwitzen oder zu frieren, was sich auf seine Gesundheit auswirkt.
Dreck und verschiedene Flüssigkeiten verändern das Aussehen der Kleidung. Schnee schmilzt auf dem Mantel, Schlamm trocknet auf der Kleidung fest und Blut verändert bei Trocknen auf der Weste sogar die Farbe. Rockstar scheint wirklich an alles gedacht zu haben. Hat sich Arthur über einen längeren Zeitraum nicht gewaschen, machen die Leute sogar Bemerkungen über seinen Körpergeruch.
Ich habe unzählige Minuten damit verbracht, mir die unzähligen Bartvariationen anzusehen. Mit jeweils 10 Bartlängen für Oberlippe-, Kinn- und Backenbart stehen rund 1000 Kombinationsmöglichkeiten zur Auswahl. Dazu kommen noch spezielle Bartfrisuren, die nur der Barbier machen kann. Mal ehrlich: Welches andere Spiel lässt mich aus so vielen Variationen wählen? Äußerlich bleibt Arthur trotzdem immer als Arthur zu erkennen, eine totale Veränderung seines Aussehens ist vom Spiel nicht vorgesehen, was ich sehr gut finde.
Auch Pferd und Waffe wollen gepflegt werden
Besonders erfrischend sind die Interaktionsmöglichkeiten mit Pferden. Pferde sind in "Red Dead Redemption 2" weitaus mehr als ein bloßes Fortbewegungsmittel: Sie sind treue Partner und werden Dich viele Stunden auf ihrem Rücken tragen. Deshalb solltest Du sie gut behandeln. Und es macht wirklich Spaß, an der Beziehung zum Pferd zu arbeiten, es zu striegeln, wenn es schmutzig ist und zu füttern, wenn es hungrig ist – das dauert gar nicht lang und verbessert außerdem noch seine Werte.
Auch die Pflege meines Schießeisens bereitet mir viel Spaß, auch wenn der Prozess im Vergleich zur Realität stark vereinfacht wurde. Als jemand, der noch Wehrdienst leisten musste, kann ich bestätigen, dass die Reinigung von Feuerwaffen in Wirklichkeit sehr viel länger dauert und viel umständlicher ist, als mit etwas Waffenöl über den Lauf zu putzen. Vielleicht gefällt mir die Revolver-Reinigung aber gerade deshalb so gut – denn die Freude über den Realismus in "Red Dead Redemption 2" hat ihre klaren Grenzen.
Wo viel Licht ist, da ist auch Schatten
So sehr mich der Realismus an vielen Stellen tiefer ins Spiel eintauchen lässt, so sehr reißt er mich an anderen Stellen aus dem Spielfluss heraus. Die Schießereien sind das beste Beispiel: Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Steuerung gewollt ungenau ist, um "realistisch" zu wirken. Ich kann mir auch vorstellen, dass Rockstar einfach immer noch Probleme mit einer präzisen Charaktersteuerung hat und unterstelle hier einfach mal beides.
Fakt ist, dass die Schießereien selten wirklich Spaß bringen und einen kapitalen Fehler machen: Sie vernachlässigen Spielspaß zugunsten von Realismus – ein Problem, das "Red Dead Redemption 2" auch an anderen Stellen hat.

Ähnlich verhält es sich nämlich beim Einsammeln von Objekten. Natürlich weiß ich, dass beim Öffnen einer Schublade in der Realität die Gegenstände nicht magisch in meine Tasche wandern. Aber muss ich in einem Videospiel wirklich jeden Gegenstand einzeln aus der Schublade nehmen und mir jedes Mal die Animation ansehen? (Dass das Anvisieren von Objekten ohne Cursor ein reiner Krampf ist, spare ich hier sogar noch aus.)
Das kurz vorher erschienene "Assassin's Creed Odyssey" ist in dieser Hinsicht zwar deutlich unrealistischer, aber auch komfortabler. Beim Looten der Gegner verhält es sich nicht anders: Jede Taschenuhr wird einzeln vom Revers gepflückt. Wenigstens helfen die Gangmitglieder hier noch mit, die getöteten Gegner um ihre Wertsachen zu erleichtern.

Paradox wird's aber regelmäßig in Szenen nach großen Schießereien: Dann drängt die ganze NPC-Bande mich ständig zur Eile, in Wahrheit habe ich aber endlos viel Zeit, um alle Gegner in Ruhe zu looten, ohne dass mir böse Überraschungen aus dem Hinterhalt drohen. Selten kollidiert der realistische Anspruch so offensichtlich und kurios mit der Videospiel-Realität wie hier.
Etwas zu viel des Guten
Ich möchte "Red Dead Redemption 2" gar nicht seine Klasse absprechen. Es ist ein einzigartiges Spiel, in dem sehr viel Liebe und Arbeit stecken. Kein Spiel hat auf mich jemals so glaubwürdig gewirkt und mich so sehr in seine Welt gezogen. Das ist vor allem dem hohen Grad an Realismus und der Liebe zum Detail geschuldet.
Umso trauriger, dass Rockstar es an einigen Stellen damit übertrieben hat. Für mich steht bei Games Spielspaß an erster Position, der mir an einigen Stellen einfach vergangen ist – und erneut ist die vermeintliche Wirklichkeitsnähe Schuld.
Dass "Red Dead Redemption 2" trotzdem ein Meilenstein der Videospiel-Geschichte ist, steht zwar außer Frage. Ich bin mir aber auch sicher, dass wir in einigen Jahren leicht verwundert auf dieses Spiel zurückschauen werden – amüsiert darüber, wie viel Komfort hier dem Realismus geopfert wurde und dankbar dafür, dass es nicht in jeder Hinsicht neue Maßstäbe setzen konnte.