"Disintegration" hat eine spektakulär gute Grundidee: Nimm ein Strategiespiel, mach die Kamera frei beweglich und schraube Maschinengewehre dran. Ego-Shooter und Echtzeit-Taktik sollen in dem Game zusammenfinden, warum es leider beim "sollen" bleibt, verrät mein Test.
- Bombensicheres Gameplay-Fundament
- Gleichförmiges Missionsdesign
- Kann Spuren von Strategie enthalten
- Beschränkungen an allen Fronten
- Spannendes Setting, laue Geschichte
- Hoffnungsträger Multiplayer
Etwa zur Hälfte der "Disintegration"-Kampagne spüre ich den Wunsch, eine Eskorten-Mission zu spielen – zur Abwechslung und damit mal ein bisschen was Neues passiert. Eskorten-Missionen sind das Allerletzte und niemand sollte diesen Wunsch jemals haben müssen. Doch es kommt noch schlimmer: Wenige Stunden später wird mein Wunsch tatsächlich wahr. Und damit sind wir mitten im Kern der Probleme von "Disintegration" – einem Spiel, das ich gerne mögen würde, weil es auf den ersten Blick so viel richtig macht.
Bombensicheres Gameplay-Fundament
Im Shooter von "Halo"-Miterfinder Marcus Lehto und seinem neuen Studio V1 Interactive sitze ich als Pilot in einem "Gravehikel" – einem Hoverbike-Panzer, der über dem Schlachtfeld schwebt. Von oben schieße ich auf Gegner und gebe dabei einem kleinen Trupp von bis zu vier Bodeneinheiten Befehle. Laufen, Angreifen, Granaten werfen, sowas.

So weit, so simpel – und so elegant: Ego-Shooter und Echtzeitstrategie kommen hier auf eine Art und Weise zusammen, die in ihrer Unmittelbarkeit und Schlüssigkeit erst einmal beeindruckt. Dafür, dass diese Idee noch ziemlich unverbraucht und unerprobt ist, funktioniert sie tadellos: Herumfliegen und feuern geht lässig von der Hand, mit nur einer Taste gebe ich meinem Trupp Befehle, Fähigkeiten löse ich mit einem weiteren Knopfdruck aus.
Die Tragik an "Disintegration" ist, dass das Spiel mit seiner frischen Gameplay-Mechanik kaum etwas Interessantes anzufangen weiß.
Gleichförmiges Missionsdesign
Missionen laufen nahezu ausnahmslos so ab:
- Gravehikel und Bodentrupp betreten ein Gebiet.
- Gegner sind entweder schon da oder werden per Landeschiff eingeflogen.
- Feuergefecht bis alle Gegner besiegt sind.
- Gravehikel und Bodentrupp ziehen zum nächsten Gebiet weiter.
Das wäre okay, wenn die Feuergefechte tatsächlich strategisch anspruchsvoll abliefen. Tun sie aber nicht, denn die so schön intuitive Mechanik von "Disintegration" hat den Nachteil, dass die Taktik maximal oberflächlich bleibt.

Ja, es kann einen kleinen Unterschied machen, wie und wann ich die Fähigkeiten meiner Truppe auslöse und wie viele Gegner meine Granate oder mein Verlangsamungsfeld erwischen. Ja, ich kann mit meinem Gravehikel vorpreschen und Scharfschützen ausschalten oder Feinde flankieren, damit es meine Bodentruppen leichter haben. Und ja, es gibt auch explosive rote Fässer zum Hochjagen.
Das war es aber schon mit der taktischen Tiefe. Da ich meine Bodeneinheiten nur als geschlossenen Trupp bewegen kann, fällt sorgfältige Planung der Positionierung von vornherein weg. Nach gut neun Stunden Singleplayer-Kampagne bin ich noch nicht einmal sicher, ob "Disintegration" ein funktionierendes Deckungs-System hat oder meine Truppen hinter Containern eher zufällig nicht getroffen werden – wenn sie denn mal da stehen bleiben.

Kann Spuren von Strategie enthalten
Nicht, dass bessere Deckung viel nützen würde. Regelmäßig wirft mir das Spiel auf weitläufigen Arealen Gegnerwellen in den Rücken, wodurch jede Art von ausgeklügelter Strategie eh hinfällig wird. Echte Taktik gibt es in "Disintegration" an genau einem Punkt des Gefechts: Direkt davor, wenn die Gegner mich noch nicht bemerkt haben und ich entscheiden kann, wie ich den Kampf eröffne. Danach bestehen die Scharmützel fast ausschließlich aus wildem Geballer, Bauchentscheidungen und Reagieren auf das Verhalten der KI, die Welle für Welle aus allen Richtungen strömt. Sterben meine Mitstreiter am Boden, habe ich 30 Sekunden Zeit, um sie durch Überfliegen wiederzubeleben. Sterbe ich selber, geht's direkt beim Checkpoint von vorne los.
Beschränkungen an allen Fronten
Ein bisschen Abwechslung entsteht immerhin durch die Bewaffnung meines Gravehikels. Manche Missionen bestreite ich mit Maschinengewehr und einem Medipack-Werfer, der meine Bodentruppen heilt. In anderen Levels bin ich mit Raketen- oder Granatwerfern, Schrotflinten oder Scharfschützengewehr ausgerüstet. Frei wählen darf ich meine Bewaffnung in den Story-Missionen aber nicht – womit das Spiel mir eine weitere Möglichkeit nimmt, eigene Strategien zu entwickeln.

Spannendes Setting, laue Geschichte
Schade, denn genau das hätte die Story der Kampagne hergegeben: "Disintegration" spielt in einer Zukunft, in der die Menschen ihre Gehirne mithilfe einer Technik namens "Integration" in Roboterkörper gepackt haben, um immun gegen eine Seuche zu werden. Das hat geklappt, und eigentlich war der Plan, danach wieder zu "desintegrieren" und menschlich zu werden. Einige Cyborgs, die Rayonne, fühlen sich als starke Maschinen aber viel wohler, unterjochen die "Natürlichen" und zwangs-integrieren sie. Als Gravehikel-Pilot Romer Shoal schließe ich mich einem sympathischen Haufen Outlaws im Widerstand an und kämpfe gegen die Rayonne.

Von ganz netten Charakteren und dem eigentlich spannenden Cyberpunk-Setting abgesehen, ist die sprunghaft erzählte und mit mäßigen Dialogen gespickte Kampagne auch erzählerisch kein Highlight. Aber: Hier wäre viel Platz gewesen für Fallensteller, schräge improvisierte Waffensysteme und Guerrilla-Taktiken. "Disintegration" verschenkt diese Möglichkeiten mit vollen Händen.
Hoffnungsträger Multiplayer
Immerhin: Der Online-Multiplayer von "Disintegration" macht Hoffnung. Hier kämpfen Teams von Gravehikel-Piloten mit je eigenen Bodentruppen in derzeit drei Modi gegeneinander, es gibt vielfältigere Ziele, mehr zu tun als bloßen Beschuss von Gegnerhorden und meine Bewaffnung kann ich mir auch aussuchen. Damit der Multiplayer läuft, braucht "Disintegration" aber erst einmal eine Community, die dranbleibt und dem Spiel die Treue hält.
Gemessen an der Einzelspieler-Kampagne ist "Disintegration" leider eine Enttäuschung. Die Grundidee ist gut, die Steuerung auch, die Umsetzung lässt sehr zu wünschen übrig – beim Missionsdesign besonders, aber auch bei Story und spielerischer Freiheit. Unterm Strich bleibt das Spiel ein annehmbarer Ego-Shooter mit dürftigen Strategie-Möglichkeiten.
Und noch einmal zum Abschluss: Eskorten-Missionen sind das Allerletzte.
Das hat mir gut gefallen | Das hat mir weniger gefallen |
+ Interessante Spielidee | - Schwache Story |
+ Reizvolles Setting | - Wenig taktische Tiefe |
+ Intuitive Steuerung | - Langweiliges Missionsdesign |
- Wenig Gestaltungsfreiheit | |
- Unflexibles Speicher-System |