"The Shining" von Stanley Kubrick ist ein Meilenstein des Horrorfilms. Niemand wäre so todesmutig, ein Sequel dazu zu drehen – oder? Doch: Horror-Experte Mike Flanagan bringt mit "Doctor Sleeps Erwachen" die offizielle Fortsetzung ins Kino, basierend auf der Romanvorlage von Stephen King. Und das Wagnis ist geglückt: "Doctor Sleeps Erwachen" ist ein berührendes Horror-Drama – und ein würdiger Nachfolger zu "The Shining". Unsere spoilerfreie Kritik.
- Es ist ein Nachhausekommen
- Eine schrecklich traumatisierte Familie
- Energievampire ...?
- "The Shining" nachstellen: Muss man sich erst mal trauen
- Go big or go home
Es ist ein Nachhausekommen
Die komplizierte Geschichte von "The Shining" und Stephen Kings Abneigung gegenüber Stanley Kubricks Version von 1980 habe ich kürzlich nochmal zusammengefasst. Ob man Kings Kritik an der Adaption nun teilt oder "The Shining" für ein unantastbares Meisterwerk hält, eines ist wohl unbestritten: Der Film ist eine Legende. Eine Fortsetzung scheint auf den ersten Blick ähnlich überflüssig und zwecklos wie ein Sequel zu "Titanic" (was natürlich nicht heißt, dass es "Titanic II" nicht absolut gibt).
Aber Mike Flanagan ("Spuk in Hill House", "Oculus", "Das Spiel") hat sich getraut. Er hat aus Stephen Kings Roman "Doctor Sleep", der rund 40 Jahre nach "The Shining" spielt, eine warmherzige Abhandlung über Schuld und Sühne gemacht, über Alkoholismus, seelische Narben und wie schwer es sein kann, die Vergangenheit loszulassen. Nein, ein ultrakrasser Horrorschocker ist "Doctors Sleeps Erwachen" nicht.
Es ist viel mehr ein Nachhausekommen.

Eine schrecklich traumatisierte Familie
Danny Torrance, der kleine Junge, der in "The Shining" von seinem irren Vater mit der Axt durch das verfluchte Overlook-Hotel gejagt wurde, ist mittlerweile erwachsen und von den Ereignissen in seiner Kindheit sichtlich traumatisiert. Er ist wie sein Vater dem Alkohol verfallen, tingelt ziellos durch das Land und hangelt sich dauerbedröhnt von einem One-Night-Stand zum nächsten. Außerdem hat er einen ungepflegten Vollbart, und das ist in Filmen bekanntermaßen das Erkennungszeichen, dass jemand ganz unten angekommen ist. Der Bart lässt keinen Zweifel: Danny Torrance ist am Ende.
Ewan McGregor spielt Danny als verletzten und verletzlichen Streuner, mit zittriger Stimme und unstetem Blick, verfällt aber nie ins Weinerliche. Dieser Mann ist noch nicht gebrochen, noch nicht ganz, aber er steht kurz davor. Mehr aus einem Zufall heraus heuert er als Hilfskraft in einem Hospiz an. Durch sein Shining, eine Art Telepathie, erleichtert er Sterbenden den schmerzlosen Übergang in den Tod. "Bald können Sie endlich schlafen", tröstet er einen Todgeweihten in seinen letzten Momenten. Er kriegt einen neuen Spitznamen: Doctor Sleep.
Doch Danny ist nicht der Einzige mit dieser spirituellen Superkraft. Das Shining der kleinen Abra Stone (Kyliegh Curran) ist sogar noch mächtiger als das von Danny. Und genau das ruft eine Bande von nahezu unsterblichen Energievampiren auf den Plan, die sich Der Wahre Knoten nennen. Sie werden angeführt von Rose the Hat (Rebecca Ferguson mit einer starken Performance) und durchstreifen das Land, immer auf der Suche nach neuen Opfern, denen sie das Shining aussaugen können. Shining wirkt auf die Typen wie Red Bull. Sie sind verrückt nach dem Zeug. Und Abra ist ein Festschmaus auf zwei Beinen. Der Wahre Knoten eröffnet die Jagd auf das Mädchen.

Energievampire ...?
Wer die Romanvorlage von "Doctor Sleeps Erwachen" nicht gelesen hat und vielleicht bis gerade nicht einmal wusste, dass es eine Fortsetzung von "The Shining" gibt, ist jetzt wohl völlig verwirrt: Energievampire? Wahrer Knoten? Was zum Teufel hat das mit "The Shining" zu tun? Mehr, als es zunächst scheint. Ich werde jetzt natürlich nicht das Ende verraten, nur so viel: In den letzten 30 Filmminuten macht "Doctor Sleep" den Zirkelschluss zum großen Vorbild und bettet die (sprichwörtlichen und buchstäblichen) Geister der Vergangenheit endgültig zur Ruhe.
Stephen King hat gesagt, dass ihn Mike Flanagans "Doctor Sleep" mit Kubricks Version von "The Shining" versöhnt hat. Das ist nicht nur ein gigantisches Kompliment, ich glaube ihm das sofort. Weil es mir ganz ähnlich ging: "Doctor Sleep" hat Herz und Seele, wo Kubricks Film kühl und distanziert war. Er erzählt eine neue, frische Geschichte, ohne die Vergangenheit zu ignorieren. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Erst jetzt fühlt sich "Shining" komplett an. Da mag Kubrick in seinem Grab rotieren – in diesem Fall ist das Herz stärker als das Hirn.
"Doctor Sleeps Erwachen" ist ein Film, den man am besten unvoreingenommen sieht und mit so wenig Vorwissen wie möglich – gerade, wenn es ins Finale geht. Ich werde an dieser Stelle also nicht weiter auf den Plot eingehen und schicke Dich hiermit einfach ins Kino. Für jeden Fan von Stephen King im Allgemeinen und "The Shining" im Speziellen (ob nun vom Buch, von Kubricks Version oder der zu Unrecht so gescholtenen TV-Fassung von 1997) ist dieser Film ein Muss. Und selbst ohne detailliertes Hintergrundwissen garantiert Mike Flanagans neues Werk Gruselvergnügen der alten Schule mit emotionalem Kern. Ohne Jumpscares. Dafür mit Seele.

"The Shining" nachstellen: Muss man sich erst mal trauen
Lass uns dafür noch ein bisschen über das Handwerk sprechen. Mike Flanagan fügt seinem Schaffen mit "Doctor Sleeps Erwachen" einen weiteren rundum gelungenen Film hinzu, der sich technisch keine Patzer erlaubt. Er inszeniert seine Filme im schlechtesten Fall langweilig und gewöhnlich, im besten Fall kompetent und solide. Bei ihm weiß man, was man kriegt, ohne krasse Ausreißer nach unten und oben. "Doctor Sleeps Erwachen" zeigt ihn aber selbstbewusst und wagemutig wie nie. Wir sehen hier die Arbeit eines Mannes, der sich den Allerwertesten aufreißt, statt in Ehrfurcht vor dem Original zu erstarren. Und das gilt für alle Beteiligten, insbesondere die Schauspieler.
Ewan McGregor und Rebecca Ferguson hatte ich ja schon erwähnt. Aber es sind vor allem die kurzen Auftritte von Alexandra Essoe aus dem fiesen Okkultimus-Thriller "Starry Eyes" (auf dessen Existenz ich hiermit auf das Nachdrücklichste hinweise), die voll ins Schwarze treffen. In Rückblenden spielt sie Shelley Duvall, die in Kubricks Film Dannys Mutter Wendy gespielt hat. "Doctor Sleeps Erwachen" stellt immer wieder Szenen aus dem Original nach, um den Figuren mehr Kontext zu geben und sie noch besser auszuarbeiten.
Das hätte bei einem so ikonischen Film wie "The Shining" katastrophal nach hinten losgehen können. Mike Flanagan und sein Team haben aber alles auf eine Karte gesetzt – und gewonnen. Die nachgestellten Sequenzen treffen nahezu perfekt Kubricks Ästhetik, seinen Look and Feel, seine Bildsprache. Manche Einstellungen sind vom Original kaum zu unterscheiden. Es ist beeindruckend.

Wie gesagt, ich will nichts verraten, aber das große Finale ist eine tiefe Verbeugung vor dem Original-"Shining" und gleichzeitig dessen logische Fortführung. Es gibt da eine gewisse Kamerafahrt, und zu der setzt eine gewisse Musik ein, und ab da hatte ich ein ganz breites Grinsen im Gesicht. "Nachhausekommen", fürwahr.
Go big or go home
Somit ist Mike Flanagan das eigentlich Unmögliche gelungen: Er hat die Romanvorlage "Doctor Sleep" für seine Verfilmung verändert, damit sie nahtlos an Kubricks "Shining" anschließt, dabei sogar noch Motive aus Stephen Kings Buch und der TV-Serie von 1997 aufgegriffen – und daraus einen runden, berührenden, emotional komplexen Film gemacht, der seinem Vorgänger die Referenz erweist und gleichzeitig auf eigenen Beinen steht.

Vielleicht ist "Doctor Sleeps Erwachen" mit saftigen 152 Minuten Laufzeit ein wenig zu lang – das ist aber auch mein einziger echter Kritikpunkt an einem ansonsten tollen Film, der für King- und Flanagan-Fans wie mich ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk ist. Der Film wird niemals so einen Legendenstatus wie "The Shining" erreichen. Das hat niemand ernsthaft erwartet. Aber ich sehe Kubricks "The Shining" jetzt mit anderen Augen. Und wenn DAS keine Kunst ist ... was dann?