Einmal Schallplatte mit Gerät, bitte!

Diese schönen Vintage-Scheiben sind aus Minnesota.
Diese schönen Vintage-Scheiben sind aus Minnesota. Bild: © Bernd Jonkmanns 2016

Im IFA-Trendbarometer wird Vinyl als einer der wichtigsten Technik-Trends 2016 ausgemacht. Doch warum nur entdecken viele Menschen ihre Liebe zum Vinyl neu? Bekenntnisse eines Rillendrehers.

Du bist normal: Du hast 78.000 Songs auf deinem Handy und kannst dir die anderen 3 Milliarden Lieder streamen.

Ich bin nicht normal: Ich hab zehn Songs in einer großen Tüte. Von einer einzigen Band. Sie sind reingekratzt in zwei Seiten rundes Plastik, erst zu Hause kann ich sie mir anhören. Was das soll? Die Erklärung ist simpel: Ich bin ein Schallplattentyp.

Ich will das schwarze Gold kaufen, auspacken, anstarren, aufklappen, ausziehen, anfassen und auflegen. Ich will, dass sich die Nadel senkt, dass das leise Knistern kommt. Um mich dann in die Musik zu versenken, mich davorzusetzen, jedes Detail zu genießen. Ich gucke gern auf das Drehen des Plattentellers. Erkenne an den Rillenlängen, wie lang das nächste Stück ist oder wann die leise Passage kommt. Bis die Schallplatte zur Auslaufrille gelangt. Ich finde alles daran toll, sogar die Nachteile.

Inzwischen sieht das die halbe Welt auch wieder so: Das einzige Segment, das bei Entertainment-Konzernen noch spürbar wächst, ist der Vinylbereich. In jedem zweiten Werbespot, der moderne Interieurs zeigt, entdeckt man im Hintergrund einen Plattenspieler und Plattencover. Vinyl kaufen ist angesagt. Warum bloß? Antwort: die spezielle Haptik, die Aura eines Kulturguts, das geile Schwarze. Reite die Rille und dein Herz hüpft im Takt.

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Der Hüter der Vinylschätze: Benoit Le Petit ist Verkäufer im Born Bad in Paris. Bild: © Bernd Jonkmanns 2016

Schallplatten haben, verglichen mit Dateien, noch einen Vorzug: das schöne große Cover. Manchmal kann man es sogar aufklappen. Was jedem Haushalt eine praktische, lebendige Dekoration beschert: Die Platte vorn in der Reihe ist das Wechselbild. Nagel und Rahmen sind überflüssig. These: Schallplatten bereichern jedes Leben, geben ihm verlorene Muße zurück. Man nimmt sich einfach wieder Zeit für das Gute. Beschäftigt sich richtig mit der Musik und gibt ihr den Raum, den sie verdient.

Ich hatte in meinem Leben bereits zwei Plattenläden. Nie war ich zufriedener als in der Mitte dieser Kultur. Wenn ich alt bin, mach ich noch mal einen auf. Sitze in meinem Geschäft und füttere Menschen mit runden, flachen Riesentabletten, versorge sie mit ihrer individuellen Dosis Glück. Ich gebe Insidertipps und Geheimwissen weiter. Gute Plattenverkäufer sind gütige Lehrer, weise, sympathische Gelehrte. Sie begeistern einen für das Medium und die Musik. Empfehlen, vermitteln, selektieren. Der klassische unfreundliche Servicefeind als Plattenhändlertyp verschwindet zusehends. Nie verschwinden werden erfreulicherweise die liebenswerten Schrullen vieler Hörer und Plattenkäufer.

Da gibt es den altmodischen Typus, den Kenner bzw. Connaisseur. Er will ernst genommen werden mit seinem Nerdtum. Er kennt sich eben extrem gut aus im Dschungel des Vinyls, kein noch so abwegiges Detail hat er nicht schon mindestens 1.000-fach bewertet. Unterschiede zwischen einer Erst- und Nachpressung realisiert er in einer Nanosekunde. Und außerdem hat er immer schon gewusst: Vinyl ist das überlegene Medium. Es klingt deeper, wärmer, und man kann es noch in 100 Jahren abspielen, wenn es längst keine CD-Player oder Computer mehr gibt. Er hat natürlich bei allem recht.

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Fundstücke voll Rhythm and Blues: Bei Rooky Ricardo’s Records in San Francisco. Bild: © Bernd Jonkmanns 2016

Wer aber ebenso richtig liegt: der moderne Schallplattenhörer. Der braucht den theoretischen Ballast nicht, den das Medium ihm aufbürden will. Er findet Schallplatten cool, mag das Griffige, das wunderbare Gefühl, wenn die Nadel sich senkt. Er akzeptiert ganz selbstverständlich das im Vergleich zum Digitalen aufwendigere Handling. Ob die Platte limitiert ist, die Pressung eine rare oder das Werk noch mal extra für Vinyl remastert wurde: Das ist ihm alles wumpe! Der moderne Schallplattenhörer will einfach nur das Geile am Format Schallplatte. Und wenn das gerade auch noch der angesagte Lifestyle ist, umso besser.

Diese beiden Typen können im Laufe ihrer Vinylkarriere zu einer besonderen Spezies verschmelzen: dem Sammler. Als lockere Gelegenheitsuser gestartet, enden sie als gierige Sucher und Jäger verlorener Schätze. Irgendwo muss der Spaß jedoch aufhören! Spätestens wenn man mehrere Pressungen von einer Platte hat, sollte man sich fragen: Ist es das, was mich an Schallplatten so fasziniert? Das Horten, Vergleichen, nach Preis bewerten? Kann ja sein, ist ja nicht verwerflich. Mit dieser Obsession findet man sogar viele Freunde. Es gibt einfach sehr, sehr viele leidenschaftliche Sammler von Schallplatten. Weltweit.

Im Red Eye Records in Sydney sind schräge Pop-Platten keine Rarität – wie La Cucaracha von Ween. fullscreen
Im Red Eye Records in Sydney sind schräge Pop-Platten keine Rarität – wie La Cucaracha von Ween. Bild: © Bernd Jonkmanns 2016
Jamaika-Vibes gibt es bei Louie in Stockholm. fullscreen
Jamaika-Vibes gibt es bei Louie in Stockholm. Bild: © Bernd Jonkmanns 2016
Im Red Eye Records in Sydney sind schräge Pop-Platten keine Rarität – wie La Cucaracha von Ween.
Jamaika-Vibes gibt es bei Louie in Stockholm.

Man erlebt im plattenhandelnden Business die schönsten Geschichten. Eine Type wie Udo Lindenberg checkt in Läden auch mal, wie sein eigenes Fach bestückt ist – und zieht dann zufrieden von dannen. Einem Mann wie der US-Underground Ikone Henry Rollins kann man im Internet seine eigenen Punkplatten verkaufen. Grund: Er habe zwar noch ein Exemplar davon, aber wolle noch eine in Mint. Alles erlebt. Prince twitterte vier Tage vor seinem Tod aus einem Plattenladen, er habe sich gerade Stevie Wonder und Santana auf Vinyl gekauft. Im Plattenladen werden Stars zu Fans – und mitunter auch Fans zu Stars: Mit seinem Roman "High Fidelity", der das oft bizarre Leben eines Plattensammlers auslotet, wurde Nick Hornby zum Schriftstellerweltstar.

Schallplatten scheinen zu verbinden: Messies treffen auf Ordnungsfreaks. Trüffelschweine akzeptieren Komplettisten. Hipster sprechen mit Rentnern. Musik ist halt die schönste aller Kunstformen. Vorsicht Ansteckungsgefahr: null Inkubationszeit. Wie leicht lässt man sich erregen, mitreißen, ja auch überreden, die eine oder andere Musik gut zu finden, wenn jemand einem eine Schallplatte vorspielt? Wie toll manche Platten im Plattenladen klingen, das ist das reine, wahre Glück. Das Allerbeste an einer Schallplattensammlung ist aber: Beim Umzug lernt man, wer ein wahrer Freund ist. Und wer Rücken hat.

Diese und weitere Geschichten findest Du auch in der aktuellen Ausgabe des TURN ON Magazins 04/16, das in allen SATURN Märkten kostenlos ausliegt.

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