Wütende Fans, schlechte Wertungen, gar Boykott-Aufrufe: Man kann ohne Übertreibung sagen, dass "Fallout 76" die Spielerschaft spaltet wie kein Serienteil zuvor. Zurecht? Unser Test klärt, welche Probleme "Fallout 76" hat – aber auch, welche Stärken.
- Story? Musst Du Dir selber machen!
- Zusammen. Alleine. Zusammen alleine?
- Mehr Spieler, mehr Spaß?
- It's fun to stay at the C.A.M.P.
- Survival Light
- Horrormeldung "Server Disconnected"
- Fazit: Unrund, aber mit viel Potenzial
Wer die letzten Monate in einem strahlungssicheren Schutzbunker verbracht hat, für den nochmal eine kleine Auffrischung: "Fallout 76", der neue Ableger der enorm beliebten Rollenspielreihe, ist ein reines Online-Spiel, in dem Du Dir das verseuchte West Virgina mit anderen Spielern teilst. "Fallout" goes MMO? Für viele alte Serienhasen ein herbe Enttäuschung – schließlich richtete sich die Reihe bisher ausschließlich an Einzelspieler.
Nach einer nicht ganz reibungslosen Beta ist das Online-Rollenspiel letzte Woche erschienen – und wird seitdem massiv kritisiert. Langweilig und öde sei es, technisch unterdurchschnittlich, und überhaupt: Von den typischen Qualitäten eines "Fallout"-Spiels sei weit und breit nichts mehr zu erkennen. Manche Hobby-Apokalyptiker sehen sogar schon das Ende des Franchise gekommen. Was ist da los im Ödland?

Um das Fazit vorwegzunehmen: Ja, "Fallout 76" hat Probleme. Ja, manche Design-Entscheidungen sind fragwürdig. Und so richtig zwingend war der Wechsel zu einem reinen Mehrspieler-System auch nicht. Aber nach Dutzenden von Spielstunden in den virtuellen Appalachen steht für mich fest: In seinen besten Momenten entfaltet "Fallout 76" eine ähnliche Sogwirkung wie "Fallout 4" oder sogar "Fallout: New Vegas". Du musst nur wissen, was Du hier bekommst. Und was nicht.
Story? Musst Du Dir selber machen!
Erste große Änderung gegenüber den Vorgängern: Eine wirklich umfassende Story gibt's in "Fallout 76" nicht. Während Du in "Fallout 4" noch Deinen entführten Sohn gesucht hast, lässt Dir das Spiel diesmal nahezu freie Hand, welche Abenteuer Du erlebst, welche Quests du freischaltest und wie viel von der – beizeiten wunderbar detaillierten – Spielwelt Du tatsächlich erforschen willst.
Das bedeutet ganz konkret, dass es keinerlei NPCs in "Fallout 76" gibt, die Dich regelmäßig mit neuen Aufgaben versorgen. Aufträge und Quests bekommst Du stattdessen durch das Erkunden der Umgebung und durch sorgfältiges Studium der zahllosen Audiologs, Tagebucheinträge und Dokumente, die Du überall findest. Du entdeckst zum Beispiel ein Skelett mit einem Zettel in der Hand, auf dem der Standort eines Waffenverstecks beschrieben ist – zack, da hast Du eine Quest!

Das fühlt sich am Anfang vielleicht ein bisschen unpersönlich an, aber ich finde das System klasse: So habe ich das Gefühl, dass mein Entdeckertrieb belohnt wird, statt mich von irgendwelchen schrägen Vögeln zu einem besseren Laufburschen degradieren zu lassen – nach dem Motto: "Wer war das jetzt nochmal? Und warum muss ich jetzt über die halbe Map rennen, um ihm drei verstrahlte Kürbisse zu bringen?"
Außerdem ist es ja nun nicht so, dass Du wirklich gar keine anderen Charaktere triffst. Das sind allerdings nur Mister-Handy-Roboter, Computerstimmen vom Band (von denen Du sehr, sehr viele hören wirst) – oder eben Deine menschlichen Mitspieler. Und jetzt wird's so richtig interessant.
Zusammen. Alleine. Zusammen alleine?
Ich bin überhaupt kein Multiplayer-Fan. Grundlegend. Je prominenter die Mehrspieler-Komponente eines Games, desto geringer mein Interesse, es auch nur anzutesten. Dementsprechend skeptisch war ich auch bei "Fallout 76" – zumal die Serie bislang ja auch wunderbar als Einzelspieler-Reihe funktioniert hat.
Und tatsächlich: Die ersten Minuten sind wirklich seltsam. Da blickt mein Ödlandkrieger gedankenversunken auf den Sonnenuntergang, um sich herum nur Einsamkeit und das leise Zirpen von Grillen – und plötzlich rennt ein anderer Spieler mit einem beknackten Namen im Clownkostüm durchs Bild. In "Fallout 76" bist Du nie alleine – das kann die oftmals zum Schneiden dichte Atmosphäre von "Fallout 76" schneller killen als Todeskrallen einen unvorsichtigen Wanderer.

Wer es nicht explizit darauf anlegt, muss mit seinen Mitmenschen aber nicht mehr als unbedingt notwendig zu tun haben. Klar, ein Blick auf die Karte zeigt mir ein paar weiße Punkte – andere Spieler in meiner Nähe. Aber bei maximal 24 Spielern per Server ist es ein leichtes, die anderen Störenfriede einfach zu ignorieren, zumal West Virginia atemberaubende 40 Quadratkilometer groß ist. Die Befürchtung, ständig von Trollen, Griefern und sonstigen Nervensägen belästigt zu werden, war also unnötig.
So kommt es zum etwas schizophrenen, für mich aber durchaus angenehmen Effekt, mir die Welt mit bis zu 23 anderen Helden zu teilen und mich gleichzeitig ziemlich isoliert und allein zu fühlen. Hin und wieder erspähe ich einen ebenso einsamen Wanderer am Horizont, wir winken uns kurz zu – und ziehen dann weiter unserer Wege. Schließlich ist das hier die Postapokalpyse, da muss jeder erst mal selber gucken, wo er bleibt.

Vielen MMO-Experten wird das deutlich zu wenig Interaktion und Gemeinschaftsgefühl sein, da bieten andere Vertreter des Genres deutlich mehr. Ich hingehen bin überzeugter Solo-Krieger und einsamer Wolf und ich bin sehr froh, dass die Mehrspieler-Komponente gar nicht so entscheidend ist, wie es die ersten Gameplay-Videos angedroht hatten.
Mehr Spieler, mehr Spaß?
Nun ist "Fallout 76" aber nun einmal ein Multiplayer-Game, also überwinde ich meine Menschenscheu und trete doch mal einer anderen Party bei, die ich zufällig auf einem meiner Streifzüge getroffen habe. Und das geht auch angenehm bequem: Ob ich mich einer Gruppe anschließen will, einen anderen Spieler zum gemeinsamen Zocken einlade oder eine Party wieder verlassen möchte: Alles ist mit ein paar Knopfdrücken erledigt.
Der Vorteil einer Gruppe dürfte auf der Hand liegen: Gemeinsam sind wir stark! Zwar ist "Fallout 76" ein recht einfaches Spiel, in dem Du nur in Ausnahmefällen ernsthafte Probleme mit einem Gegner bekommen wirst. Aber ein mutiertes Riesen-Faultier oder gar eine Scorchbiest-Königin lässt sich weitaus schneller niederringen, wenn gleich mehrere bis an die Zähne bewaffnete Spieler aus allen Rohren ballern.
Clever sind die Feinde in "Fallout 76" nicht, dafür schlucken sie jede Menge Treffer. Und bei solchen Bulletsponge-Gegnern bin ich ausnahmsweise dann doch mal froh, Unterstützung zu haben.

Nach Abschluss einer Quest erhält jeder Teilnehmer seine ganz eigene Beute. Du musst Dich also nicht sorgen, dass Dir andere Partymitglieder die heiß begehrten Belohnungen vor der Nase wegschnappen. Schön, Bethesda! Aber warum jeder Spieler in einer Party jeden einzelnen Schritt innerhalb einer Quest einzeln absolvieren muss, ist nur mit akuter Verstrahlung der Programmierer zu erklären.
Es reicht nicht, wenn mein Teamkollege ein wichtiges Dokument liest, ich muss es dann auch nochmal lesen? Und meine beiden anderen Kollegen danach auch, erst dann geht die Quest für uns weiter? Solch archaisches Gamedesign hat in einem AAA-Titel im Jahr 2018 nichts mehr verloren.

Wer an Kooperation kein Interesse hat, der probiert den PvP-Modus aus. Erst ab Level 5 kannst Du andere Spieler angreifen. Und erst, wenn der angegriffene Gegner zurückballert, ist das Duell offiziell eröffnet. Levelunterschiede spielen hier übrigens keine Rolle – wer die Schießerei lebendig übersteht, hängt ausschließlich vom Können der Spieler und der Qualität ihrer Ausrüstung ab.
Aber Vorsicht: Killst Du einen anderen Spieler, der sich nicht wehrt, also offenbar kein Interesse an einem kleinen Kämpfchen hat, wirst Du als Mörder gebranntmarkt und auf Deinen Kopf ist eine saftige Beute ausgesetzt! Mal komplett die Sau rauszulassen, hat also selbst in der zerstörten Welt von "Fallout 76" üble Konsequenzen.
It's fun to stay at the C.A.M.P.
Die größte Neuerung im 2015 erschienenen "Fallout 4" war das Basenbau-Feature. Auch in "Fallout 76" kannst Du wieder Dein ganz eigenes Camp – Entschuldigung, ich meine natürlich C.A.M.P., was für "Construction and Assembly Mobile Platform" steht – entwerfen, bauen und erweitern. Dafür brauchst Du jede Menge Rohstoffe, die Du wiederum am einfachsten durch das Zerlegen von überflüssigem Schrott bekommst, den es wirklich überall in West Virginia gibt.
Dein Lager dient als mobile Basis, in der ein Bett, eine Kochstelle, ein paar Werkbänke zum Waffenbau sowie eine viel zu knapp bemessene Vorratskiste zu den absoluten Basics gehören. Somit hast Du Dir gleichzeitig auch einen Schnellreise-Punkt geschaffen, zu dem Du von jedem Ort der Spielwelt aus bequem springen kannst.

Praktisch: Dein Camp ist mobil und lässt sich mit nur einem Knopfdruck mitnehmen und woanders wieder aufbauen. Wagst Du Dich erstmals in ein unerforschtes, potenziell gefährliches Gebiet, teleportierst Du einfach Deine Basis und damit Deinen Schnellreise-Punkt zu Dir. Das kostet nur ein paar Kronkorken und es ist allemal besser, seine Reisekasse anzubrechen, als nach einem Game Over einen kilometerlangen Gewaltmarsch antreten zu müssen, weil Du irgendwo in der Walachei wieder aufgewacht bist.
Können andere Spieler Deine Basis einnehmen, während Du irgendwo im Ödland unterwegs bist? Ja und nein. Deine Vorratskiste ist absolut sicher, ebenso wie Power-Rüstung, die Du finden kannst – wenn Du sie denn ordentlich in ein Gestell hängst. An Deine wichtigsten Besitztümer kommt also niemand außer Dir ran, außerdem verschwindet Deine Basis aus der Spielwelt, wenn Du offline gehst.

Aber: Bist Du im Spiel, können andere User durchaus Dein Camp angreifen, beschädigen und nachwachsende Ressourcen stehlen. Ein paar gut geölte Geschütztürme rund um die Heimstatt sind also Pflicht!
Survival Light
Es gibt ein Hunger- und Durst-System in "Fallout 76". Und wenn Du ähnlich gestrickt bist wie ich, schrillen jetzt sämtliche Alarmglocken. Nichts finde ich persönlich nerviger und sinnloser, als in einem Videospiel alle paar Minuten im Inventar zu wühlen, um meinen Charakter mit einem Schluck Wasser oder einem verdammten Apfel vor dem völligen Zusammenbruch zu bewahren. Genau diese Art von roboterhaftem Mikro-Management schreckt mich an Survival-Games zutiefst ab.
Aber "Fallout 76" ist glücklicherweise kein echtes Survival-Game. Ja, mein Charakter klagt regelmäßig über einen knurrenden Magen und noch viel regelmäßiger über Durst (ernsthaft, wie schnell kann man literweise runtergekipptes Wasser wieder ausschwitzen?), aber das ist eher lästig als spielentscheidend. Lasse ich meinen Avatar etwa dehydrieren, muss ich einen empfindlichen Abzug auf meine verfügbaren Aktionspunkte hinnehmen – nicht optimal, aber im Zweifelsfall verschmerzbar.

Mit ein bisschen Glück bekommst Du auch schon recht früh die Möglichkeit, Hunger und Durst Deiner Figur deutlich zu reduzieren – die neuen Perk-Karten machen's möglich. Für jedes Deiner S.P.E.C.I.A.L.-Attribute (das steht für Strength, Perception, Endurance, Charisma, Intelligence, Agility, Luck) bekommst Du beim Stufenaufsteig ein paar Perk-Karten, von denen Du Dir die für Dich passendste aussuchen kannst.
Mehr Ausdauer, härtere Nahkampfangriffe oder eben ein Bleimagen? Kannst Du Dir alles so zusammenstellen, wie es Deinem Spielstil entspricht. Besonders feiner Zug: Um auf besondere Situationen und Herausforderungen zu reagieren, kannst Du die angelegten Karten in Windeseile austauschen.

Horrormeldung "Server Disconnected"
Das alles funktioniert aber nur, wenn "Fallout 76" auch online ist. Eine Offline-Funktion gibt's nicht, wenn die Server mal streiken, wirst Du prompt aus dem Spiel geschmissen. Und hier muss sich Bethesda die harsche Kritik tatsächlich gefallen lassen: Stabil läuft "Fallout 76" wirklich nicht.
Ich zocke auf der Xbox One und bin an einem Abend innerhalb von zehn Minuten so oft aus dem Spiel geflogen, bis ich entnervt aufgegeben habe. Damit bin ich bei Weitem kein Einzelfall: Wenn man diversen Online-Erfahrungsberichten schenken kann, läuft das MMO auf dem PC sogar noch unzuverlässiger.

Natürlich betreffen derartig heftige Technik-Schnitzer nur einen Bruchteil der Spielzeit, aber trotzdem: Eine flüssige, stabile Serveranbindung darf ich im Jahr 2018 wohl erwarten, wenn ein Hersteller von mir ununterbrochenen Internetzugang voraussetzt, oder? Aber gut, da hilft nur durchatmen, ruhig bleiben und sich neu verbinden.
Fazit: Unrund, aber mit viel Potenzial
Es ist nicht ganz einfach, "Fallout 76" zu bewerten. Wie eingangs erwähnt, leistet sich das Spiel einige höchst diskutable Patzer. Warum ist es technisch nicht mal annähernd auf der Höhe der Zeit? Wieso ist das so beliebte VATS-Pausen-Zielsystem überhaupt noch im Spiel, wenn es dank mittelprächtiger Anpassung auf die ständige Echtzeit eines Online-Spiels doch nahezu sinnlos ist? Und wer ist für dieses umständliche Questsystem in einer Party verantwortlich?
Der nahezu völlige Verzicht auf eine mitreißende Story und erinnerungswürdige NPCs tun ihr Übrigens dazu, dass Hardcore-Fans der Reihe kein gutes Haar an "Fallout 76" lassen. Und man kann es ihnen nicht mal verübeln, denn das Spielgefühl unterscheidet sich schon ziemlich vom Vorgänger.

Aber: Mir gefällt's überraschend gut. Die Stories der vorherigen Teile fand ich ohnehin nicht sonderlich preisverdächtig, ich kann meine menschlichen Mitspieler meist wunderbar ignorieren und wenn ich in Ego-Sicht und mit den typischen "Fallout"-Radioschnulzen im Ohr einen verfallenen Freizeitpark erkunde, fliegen die Spielstunden nur so dahin.
Überleg Dir also, was Dir in einem "Fallout"-Spiel wichtig ist: Wenn du auf Atmosphäre, freie Erkundung und recht simplen Basenbau Wert legst, wenn Dich Hardcore-Survival-Games abschrecken, Du aber das Gefühl magst, Dich alleine durch eine unwirtliche, gefährliche Spielwelt zu schlagen, wenn Du allgemein den "Fallout"-Charme liebst und darüber so manchen Design-Missgriff verzeihen kannst – dann ist "Fallout 76" etwas für Dich.
Keine Frage: Bethesda wird nun mit regelmäßigen Updates und DLCs abliefern müssen, um langfristig bei den Großen mitzuspielen. Ein technisch einwandfreies Multiplayer-Abenteuer mit spannenden Quests und noch mehr Anpassungsmöglichkeiten ist "Fallout 76" noch lange nicht – da ist noch Luft nach oben.

Aber es ist auch bei weitem nicht der Rohrkrepierer, zu dem es – oftmals voreilig – gemacht wird. Das Potenzial ist längst noch nicht ausgeschöpft. Mein Tipp: Mal reinschnuppern und dann entscheiden. Gut möglich, dass Dich eine angenehme Überraschung erwartet. War bei mir genauso.
Und jetzt entschuldige mich, ich muss zurück ins Ödland – ich glaube, ich habe da hinten einen mutierten Einsiedlerkrebs gesehen, groß wie ein Truck...
Was uns gefallen hat | Was uns weniger gefallen hat |
Raum zur freien Erkundung | Technisch unterdurchschnittlich |
Typische "Fallout"-Atmosphäre | Verbindungsprobleme und Lags |
Auch für Solisten fesselnd | Umständliches Questsystem in Parties |
Nur dezente Survival-Elemente | Beizeiten hakelige Bedienung |
Basenbau erfüllt wichtigen Zweck | VATS nahezu überflüssig |