Finnland, Heimat von gefühlt 100 Milliarden Mücken und exakt 187.888 Seen, hat weniger Einwohner als die Metropolregion Berlin und ist doch einer der wichtigsten Produzenten von Handyspielen auf der Welt. Wie geht das?
Vielleicht liegt hinten links, in direkter Nachbarschaft zu Microsoft, SAP und Nokia, Blick auf die Ostsee, Terrasse mit Barbecue und Tischfußball, einer der wichtigsten Brainstorming-Räume Finnlands: die Sauna von Rovio.
"In der Sauna wird viel diskutiert", sagt Minna Tuominen, Pressefrau des Herstellers von Angry Birds. Sie sagt: "In a true Finnish way." Was wohl in etwa bedeutet: ergebnisorientiert. Schließlich treffen sich in Finnland selbst Minister in der Sauna, und die Sauna-Diplomatie des Landes gilt als sehr erfolgreich. Was man auch über Rovio sagen kann.

Angry Birds gibt es in mittlerweile 14 Varianten. Mit bisher über drei Milliarden Downloads allein für das Original ist es eines der erfolgreichsten Handyspiele aller Zeiten. Das Design Museum in Helsinki widmet den Vögeln momentan Teile einer Ausstellung namens "Utopia Now", aber bereits jetzt beträgt die weltweite Bekanntheit der Marke 90 Prozent. Es gibt TV-Shows, Bücher, Lebensmittel, Themenparks und sogar ein Angry-Birds-Yoga mit dem Titel "How to Eliminate the Green Pigs in Your Life". Der Angry-Birds-Film war der mit Abstand erfolgreichste finnische Film aller Zeiten: Er spielte knapp 350 Millionen Dollar ein, ein zweiter Teil ist in Planung.
Angry Birds: Die Erfolgsgeschichte
So ist es auch unmöglich, die Figuren zu übersehen: Am Eingang des Rovio-Hauptquartiers in Espoo, 20 Kilometer vor Helsinki, stehen Schweine, auf dem Dach wehen Angry-Birds-Fahnen. In der Lobby, überlebensgroß: Red und Chuck und Bomb, die wichtigsten Charaktere. In Vitrinen liegen mit den Angry Birds bedruckte Schuhe und Taschen und Jeans und ein Schminkset. Dazu Spielzeugfiguren und Kuscheltiere.

"Das muss ich schnell erzählen", sagt Niklas Hed, 36, einer der Gründer von Rovio und COO, zuständig für Entwicklung. "Das ist eine gute Geschichte." Die Idee, sagt er, sei es gewesen, das Spiel durch die Kuscheltiere bekannter zu machen, die Marke zu stärken. Aber alle Hersteller, mit denen Rovio Kontakt aufgenommen habe, hätten abgelehnt. "Schließlich fanden wir einen, der beinahe pleite war und deswegen verzweifelt genug, um es zu versuchen." 30.000 Kuscheltiere wurden produziert, auch im Unternehmen war das umstritten, denn schließlich konnte man die Tiere nur online bestellen und ausschließlich per PayPal bezahlen – und wer kannte 2009 schon ein Handyspiel über eierklauende Schweine und wütende Vögel aus Finnland?
PayPal dachte an Geldwäsche
Man habe gerade mal das Geld für einen Versuch gehabt, sagt Hed: "Wir haben es aber trotzdem gemacht." Und dann sperrte PayPal das Konto. Hed freut sich auf das, was gleich kommt. Er nestelt an seinem Kapuzenpulli herum. Er sagt: "Dann riefen die an, um zu überprüfen, ob wir Geldwäscher sind." Er lacht. Die Verkaufszahlen waren so sprunghaft von null angestiegen, dass man bei PayPal misstrauisch wurde.
Niklas Hed redet mit den Händen, er rutscht auf dem Stuhl herum, holt aus, beugt sich nach vorn und zurück. "Geldwäsche." Er hat die Geschichte schon öfter erzählt, sie macht ihm Spaß, keine Frage. "Die Frau am Telefon hatte von Angry Birds noch nie gehört." Eine Woche später, sagt er, rief sie wieder an – nur um zu erzählen, dass sie das Spiel mittlerweile gespielt habe. "Sie fand es großartig." Pause. "Und wir mussten dringend mehr Kuscheltiere produzieren."

Rovio mache das sehr gut und sei darin durchaus ein Vorbild, findet KooPee Hiltunen, Chef von Neogames, dem Dachverband der finnischen Spieleunternehmer in Tampere. Man müsse seine Produkte diversifizieren. Er sagt: "Es geht darum, die Industrie auf das nächste Level zu heben."
Finnland, ein Land der Handyspiele
Denn obwohl Rovio sich mittlerweile als Entertainment-Konzern sieht, ist das Unternehmen als Produzent von Handyspielen in Finnland nur eines von vielen. So ist aktuell gerade Supercell mit Clash of Clans erfolgreich. Zudem wurde der Rächer Max Payne in Finnland erfunden und die neueste Version von Ridge Racer dort entwickelt. Best Fiends kommt von dort, genau wie das Bauernhofspiel Hay Day.
Fast 2,4 Milliarden Euro setzten die finnischen Spieleentwickler 2015 um. Das ist nicht nur ein Wachstum von 33 Prozent gegenüber 2014, sondern vor allem zehn Prozent des weltweiten Umsatzes mit mobilen Spielen. Schätzungen gehen davon aus, dass der finnische Weltmarktanteil weiter wachsen wird, bei gerade mal fünfeinhalb Millionen Einwohnern. 95 Prozent des Erlöses kommen aus dem Export.

Man habe eben keinen Heimatmarkt, sagt Hiltunen, und auch Hed sagt: "Wir hatten bei Angry Birds am Anfang gerade mal 100 Downloads am Tag. Das reichte, um in ganz Skandinavien die Nummer eins zu sein." Der kleine Markt führe dazu, dass man einerseits geradezu zwangsläufig auf Internationalität setzen müsse, andererseits aber genau deswegen kooperiere – innerhalb Skandinaviens und sogar weltweit. So gibt es etwa in Palo Alto die Silicon Vikings, die die Aktivitäten von Schweden und Dänen, Norwegern und Finnen, Isländern und Balten koordiniert und für das Networking zwischen den Beteiligten sorgt.
Mobile Games lassen sich günstig entwickeln
Dennoch: "Die Saat für den Erfolg wurde bereits vor mehr als zehn Jahren gelegt", sagt Tero Ojanperä, ehemaliger Vizepräsident von Nokia Services und heute Partner beim Risikokapitalgeber Vision+. "Einfach deswegen, weil Nokia damals sehr viel Know-how aufgebaut hat." So gilt deren Spiel Snake auf dem gerade wiederaufgelegten Modell 3310 aus den späten 1990ern als richtungsweisend. Mit dem Niedergang der Nokia-Handysparte wurden viele hoch qualifizierte Programmierer entlassen. Sie gründeten neue Firmen. So sind über zwei Drittel der finnischen Games-Unternehmen nicht mal fünf Jahre alt. Weil es zudem billiger ist, ein mobiles Spiel zu entwerfen – die Kosten belaufen sich durchschnittlich auf nur zehn Prozent von denen eines Konsolenspiels – können auch kleine Studios Spiele entwickeln. Die Industrie steht auf mehreren Beinen, ist besser gewappnet gegen mögliche Krisen und nicht von der Innovationskraft weniger großer Player abhängig.

Zudem hat der finnische Staat das Potenzial der Branche erkannt. Tekes, eine dem Wirtschaftsministerium unterstellte Agentur für Technologie und Innovation, Leitspruch: "It takes courage to be a Finn", gewährt Anschubfinanzierungen und übernimmt so die Rolle der Risikokapitalfirmen des Silicon Valley. In den letzten 15 Jahren hat die Agentur über 100 Unternehmen mit knapp 70 Millionen Euro unterstützt. Ilkka Paananen, Gründer von Supercell, sagt: "Ohne Tekes würde Supercell nicht existieren." Ein Investment, das sich für beide Seiten gelohnt hat. Seit 2013 hat Supercell über 260 Millionen Euro Steuern gezahlt. Dabei investiert Tekes aber nicht nur in die Entwicklung eines Spiels, sondern auch in eine Analyse von Spielern und deren Bedürfnissen, die Weiterentwicklung und Feinabstimmung einer Spielidee und schließlich, um sicherzugehen, dass ein gutes Spiel auch außerhalb des Unternehmens als solches wahrgenommen wird, in die Vermarktung.
Der Erfolg von Angry Birds war kein Zufall
Rovios Erfolg war denn auch kein Zufall, sondern so gut wie möglich geplant. Es war bereits das 52. Spiel des Unternehmens. Bei den Spielen zuvor war die jeweilige Zielgruppe untersucht worden – deren Bedürfnisse flossen in die Entwicklung ein. Das neue Spiel sollte ohne lange Erklärung spielbar sein, etwa wenn die Leute auf den Bus warten. Es sollte unterbrechbar sein, mit kurzer Wiedereinstiegsphase. Es sollte einfach sein, aber nicht zu einfach, sich streng an physikalischen Regeln orientieren und intuitiv spielbar sein. Und vor allem musste es 2009 für das Gadget der Saison und dessen Touchscreen optimiert sein: für das iPhone.

Analysen hatten ergeben, dass Spiele in Apples App Store besonders gut funktionierten, wenn sie eine klare Identität hatten. Eine starke Marke. Also personalisierte Rovio das neue Spiel, weswegen es nicht etwa Katapult heißt, obwohl dies eine genauso wichtige Rolle spielt, sondern eben Angry Birds. Nachdem die ersten Testspieler die Schweine sympathischer fanden als die Vögel, wurden die Schweine zu Eierdieben, um den Konflikt zu stärken. Die Vögel bekamen eine Backstory. Hed sagt: "Es musste einfach klappen." Schließlich war das Budget für das Spiel sehr knapp bemessen, betrug gerade mal 50.000 Dollar. Der Businessplan? "Make it or break it", sagt Hed.

Er sagt: "Ich glaube, dass der Erfolg der finnischen Games-Industrie viel mit den Assembly Demopartys zu tun hat." 1992 zum ersten Mal veranstaltet, geht es bei der Veranstaltung im Wesentlichen darum, dass Nerds anderen Nerds zeigen, was sie aus ihrem Computer alles herausholen können, grafisch und soundtechnisch. Mittlerweile hat die Assembly mehrere Tausend Teilnehmer und wird im Fernsehen übertragen. Hed und seine beiden Rovio-Mitgründer haben den Wettbewerb 2003 mit einem Multiplayer-Spiel gewonnen. "Und dann war eben die Frage: Was machen wir jetzt?" Sie entschieden sich dafür, zusammenzubleiben und das Spiel zu vermarkten. Der Grundstein für Rovio war gelegt.
"Was soll man auch sonst machen?", fragt Hed grinsend. Schließlich seien die Winter lang und kalt und dunkel in Finnland. Er deutet aus dem Fenster. Es ist Mitte März, die Ostsee ist zugefroren. "Da bleibt man eben zu Hause und programmiert."
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