"Forza Horizon 4" hebt Open-World-Racing aufs nächste Level: Mit einer malerischen Spielwelt und dynamischen Jahreszeiten punktet es optisch, das Gameplay setzt auf Zwanglosigkeit und unerschütterlichen Optimismus. Warum Microsofts Rennspiel das erwartete Herbst-Highlight geworden ist und was "Fallout" und Harry Potter damit zu tun haben, verrät unser Test.
Dystopien in Games und Filmen sind im Trend und wenn man genau darüber nachdenkt, passt "Forza Horizon 4" perfekt in eine Reihe mit "Fallout", "Metro" und "Mad Max": Eine Horde Motorsport-Fans kapert Großbritannien für ein mehrere Jahre dauerndes Festival. Geschwindigkeits-Junkies brettern ohne Rücksicht auf Verluste über Kreisverkehre und Küstenstraßen, verunstalten Moore, Strände und Hügellandschaften, treiben in lärmenden Rallye-Kisten Schafe über üppige Weiden und marodieren durch die Gassen altehrwürdiger Städte.
Auf den Straßen riecht es nach Reifengummi und Benzin, die Bevölkerung bleibt lieber im Haus, die Polizei ist machtlos und stellt sich den Rowdies nicht mal mehr entgegen. Anarchy in the UK, sozusagen. Klingt reichlich (post-)apokalyptisch, oder?
Mit Bleifuß durch Bilderbuch-Britannien
Auch wenn der obige Absatz das Setting von "Forza Horizon 4" ziemlich exakt (wenn auch zugegebenermaßen etwas reißerisch) umreißt, könnte es von einer Dystopie nicht weiter entfernt sein. In einer Spielelandschaft voller düsterer Zukunftsvisionen ist das Rennspiel vielmehr eine Utopie wie aus dem Lehrbuch.

In der Welt des Horizon-Festivals dreht sich – wie immer – alles um Autos, Rennen, waghalsige Stunts und den puren Spaß an der Geschwindigkeit. Alle Beteiligten, von der Festival-Chefin über die Gurus der einzelnen Renndisziplinen bis zu den Radiomoderatoren, sind ausnahmslos freundlich, feiern jeden Teilnehmer frenetisch und haben selbst nach krachenden Niederlagen immer ein aufmunterndes Wort auf den Lippen. Gute Vibes wohin man blickt – und schöne Landschaft obendrein.
Spielwelt: Ein Sommernachts-Traum
Entwickler Playground Games hat sich als vierten Austragungsort des Horizon-Festivals nach Australien im dritten Teil für die britischen Inseln entschieden. Die wurden auf ein landschaftliches Best-Of im Miniformat eingedampft, das sich kein Tourismusbüro besser hätte ausdenken können. Und weil zu einem ordentlichen Bilderbuch-Großbritannien nicht nur schnuckelige Cottages, Highlands und Seenplatten gehören, sondern auch unberechenbares Wetter, kommt der neue "Forza Horizon"-Teil als großes Alleinstellungsmerkmal mit wechselnden Jahreszeiten daher.

Ein Schnelldurchgang durch Sommer, Herbst, Winter und Frühling ist deshalb auch das erste, was ich am Steuer erlebe, bevor mich das Game – wieder im Sommer angekommen – in die Open-World entlässt. Ab da beginnt, was die Entwickler als "Prolog" bezeichnen: In den ersten Spielstunden macht mich das Game spielerisch mit seinen Renndisziplinen und Fortschritts-Mechaniken bekannt.
Frei, freier, "Forza"
Die Rahmenhandlung (ich muss mich als aufstrebender Renn-Star im Kader beweisen) ist dabei erwartbar dünn und die NPCs alle ein bisschen überfröhlich, aber das ist okay: Wichtig ist eigentlich nur, dass auf der Karte nach und nach immer mehr Events auftauchen, in denen ich mir die ersten Sporen verdienen kann – und zwar ganz so, wie ich es möchte.
"Forza Horizon 4" zwingt mich zu gar nichts. Weder zum Gewinnen, noch zum Absolvieren irgendwelcher Disziplinen, die ich eigentlich nicht mag.
Ich stelle zum Beispiel recht schnell fest, dass mir die halblegalen, an der Festival-Leitung vorbei organisierten Straßenrennen bei Nacht nicht allzu viel Spaß machen. Umso mehr liegen mir Dirt-Racing-Events und Querfeldein-Rennen, bei denen es auf grob abgesteckten Routen über Stock und Stein geht.

Schnell lasse ich das Street-Racing deshalb links liegen und konzentriere mich ganz auf die Offroad-Karriere – völlig ohne Nebenwirkungen, schlechtes Gewissen oder Rennleiter, die mich zur Teilnahme an irgendwelchen Pflichtveranstaltungen nötigen.
Progressions-System: Wie es euch gefällt
Möglich wird das, weil der Fortschritt über sogenannte Einfluss-Punkte funktioniert, die für so ziemlich alles verliehen werden. Am meisten gibt's natürlich für gewonnene Rennen, auch die hinteren Plätze werfen aber noch ein paar Pünktchen ab. Durch die Landschaft zu pesen und dabei Sprünge oder Drifts hinzulegen, bringt mich ebenfalls weiter.
Ich fahre also, wohin ich möchte, gewinne Rennen (oder auch nicht), erkunde die Map auf der Suche nach Geheimnissen wie den legendären Scheunenfunden und investiere mein gewonnenes Geld ab und zu in einen neuen fahrbaren Untersatz oder ein neues (gerne richtig schön albernes) Outfit für meine Spielfigur am Steuer. Selbst das Tunen von Autos oder das bloße Erkunden der Spielwelt hat noch einen positiven Einfluss aufs Konto.

Die Progressions-Mechanik ähnelt dadurch ein wenig dem Fortschritts-System, das "The Crew 2" in diesem Jahr auch schon aufbot – nur ohne den ganzen aufgepropften Social-Media-Follower-Unsinn als dahergebogene Erklärung. Gut so.
"Horizon Stories": Witzige Nebenjobs für Lenkrad-Artisten
Für eine Prise Wahnwitz abseits des Renn-Alltags sorgen die sogenannten "Horizon Stories" – kleine Questreihen, in denen ich zum Beispiel Driftrennen fahre, für eine Autovermietung schnittige Hypercars von A nach B steuere oder für einen Actionfilm als Stuntman einspringe.
Besonders die Arbeit als Film-Fahrer macht höllisch Laune, was am wunderbar trockenen Humor des Regisseurs und der kreativen Aufgabenstellung liegt: Fahr vor dem Düsenjet weg! Verwüste das Dorf! Fahr diesen 90 Jahre alten Rennwagen zu klassischer Musik an der Küste entlang, ohne ihn kaputtzumachen!

Ebenfalls herrlich irre sind die Schaurennen, die im Prolog an bestimmten Punkten freigeschaltet werden. Hier fahre ich mal nicht mit anderen Autos um die Wette, sondern mit einem Hovercraft oder einer Dampflok, die – natürlich! – auf den Spuren des Hogwarts-Express aus den "Harry Potter"-Filmen über einen digitalen Nachbau des Glenfinnan-Viadukts rauscht.
Jahreszeiten-Wechsel als Game-Changer
Beim Erreichen einer bestimmten Punktzahl wechselt im Prolog die Jahreszeit, es kommen viele neue Events dazu und das Erkunden der Map beginnt von Neuem. Vor allem der Wechsel von Herbst auf Winter macht dabei spürbar, wie bahnbrechend das Jahreszeiten-Feature von "Forza Horizon 4" ist.

Plötzlich ist die ganze Spielwelt in weißen Glanz getaucht, in Offroad-Rennen pflüge ich durch knietiefen Schnee und auf Asphalt-Straßen ist mit Glätte zu rechnen – den Supersportwagen, mit dem ich im Sommer noch Geschwindigkeitsrekorde an der Radarfalle aufgestellt habe, lasse ich jetzt lieber in der Garage.
Auch wenn der idyllische Winter sich schnell zu meiner Lieblings-Jahreszeit mausert: Wunderschön anzusehen ist das virtuelle Großbritannien eigentlich immer. Selbst bei typisch englischem Frühlings-Niesel wirkt die Welt nicht grau und trist, sondern jederzeit glaubhaft und lebendig. Und wenn ich doch mal keine Lust auf das aktuelle Wetter habe, kann ich selber eigene Renn-Events erstellen, in denen ich Fahrzeugklasse, Tages- und Jahreszeit sowie Witterung bestimme.

Das echte "Horizon Life": die Shared World
Trotz seiner unglaublichen Fülle an Aktivitäten ist der Prolog aber nur eine Vorbereitung auf das eigentliche Spielerlebnis. Nachdem ich mein "erstes Jahr" auf dem Horizon-Festival hinter mich gebracht und mir einen Platz im Kader gesichert habe, wird "Forza Horizon 4" nämlich zum Shared-World-Abenteuer: Aus dem Einzelspieler-Erlebnis wird ein MMO, die "Drivatar" genannten KI-Autos, die auf den Straßen der Spielwelt fahren und zu spontanen Rennen herausgefordert werden können, werden durch echte Spieler ersetzt. Rennen lassen sich nun auch im Koop oder im PvP bestreiten aber natürlich auch weiterhin im Einzelspieler-Offline-Modus.
Außerdem ändert sich der Jahreszeiten-Zyklus: Als ich den Prolog beendet habe, war es Herbst – und zwar für alle Spieler. Eine Woche echter Zeit dauert es, bis die Jahreszeit serverweit wechselt. Währenddessen gibt es Saison-spezifische Renn-Events, die Bonuspreise und -punkte abwerfen.
Viel zu tun für Teamplayer
In sogenannten Team-Abenteuern können etwa wilde Querfeldein-Rennen zwischen zwei Mannschaften ausgetragen werden, dazu gibt es kompetitive Autokampf-Disziplinen, in denen zwei Teams zum Beispiel unter vollem Blecheinsatz um Flaggen kämpfen. Diese Abenteuer werden instanziert gestartet, ich werde also zusammen mit meinen Mitspielern auf einen neuen Server verfrachtet. Ein bisschen Wartezeit sollte man dabei einkalkulieren, das Matchmaking bewegt sich aber meist im verträglichen Rahmen.
Und es lohnt sich– nicht nur, weil es für Multiplayer-Rennen mehr Credits und Einfluss gibt, sondern auch, weil sich aus der hemmungslosen Raserei immer wieder herrlich bescheuerte Situationen ergeben. Menschen fahren eben ganz anders virtuell Auto als Künstliche Intelligenzen.

"Forzathon Live": Der Event gewordene Irrwitz
In der Open-World fällt die Online-Komponente dagegen eher wenig auf. Ab und an begegnen mir andere Spieler, Interaktion findet aber kaum statt. Wenn ich Renn-Events im Koop starte, wird das serverweit bekanntgemacht und Spoieler können beitreten. Bei meinen Versuchen kam allerdings nie die erforderliche Zahl an Mitstreitern zusammen. Wer eine feste Clique hat, mit der er spielt, wird es hier aber wesentlich leichter haben – und für solche Freundeskreise ist "Forza Horizon 4" wie gemacht.
Ein Highlight in der Open-World sind allerdings die zufällig aufploppenden "Forzathon Live"-Events: Für einen kurzen Zeitraum wird dann ein Bereich auf der Karte markiert, in den sich jeder, der Lust hat, begeben kann, um mit allen anderen anwesenden Spielern zusammen bestimmte Aufgaben gegen die Zeit zu erfüllen. Das Erscheinen eines solchen Events sorgt immer für regelrechte Pilgerfahrten aus allen Ecken der Map zum Ort des Geschehens und spaßige Action – zum Beispiel beim gemeinsamen Driften in einem Park in Edinburgh.
Fazit: Wohlfühl-Racing in Perfektion
Mit der kongenialen Kombination aus flexiblem Progressions-System und atemberaubender Optik erschafft "Forza Horizon 4" einen wunderbar zwanglosen Gameplay-Loop. Die pure Freude am Fahren durch eine meisterhaft gestaltete Open-World-Umgebung wurde bislang wahrscheinlich noch nie so grandios umgesetzt.
Auf dem PC kann das Spiel in nativem 4K mit 60 FPS und mit HDR laufen – die entsprechende Leistung unter der Haube natürlich vorausgesetzt. Grafikqualität und -features können dazu umfassend angepasst werden: So gibt es etwa mehrere FOV-Slider und die Möglichkeit, die Optik noch über die "Ultra"-Einstellungen hinaus zu drehen. Ray-Tracing wird noch nicht unterstützt.
Echte Kritikpunkte zu finden, fällt deshalb auch schwer. Sicher, die "Story" ist dürftig, aber wenigstens weitgehend Fremdscham-befreit. Die Charaktere und ihre Animationen sehen auch etwas hölzern aus – die große Designarbeit steckt aber ja auch sinnvollerweise in den Autos. Die üblichen physikalischen Ungenauigkeiten aus Rennspielen gibt es auch hier und Simulations-Freaks wird das Handling der Autos wohl insgesamt etwas zu "arcadig" sein – aber an die richtet sich "Forza Horizon" eben auch 2018 immer noch nicht.

Spannend wird, wie sich der Shared-World-Multiplayer weiter entwickelt, auf den die Macher einen großen Fokus legen. In der Shared-World ist die Mehrspieler-Komponente bei Zufalls-Matchmaking eher eine nette Dreingabe, die für etwas mehr Leben sorgt – abgesehen von den genialen "Forzathon Live"-Events, in denen sich hemmungsloser Renn-Wahnsinn Bahn bricht. Vor allem bei geselligen Rennspiel-Fans mit entsprechend interessiertem Freundeskreis dürfte das Spiel aber sein ganzes Potenzial entfalten.
Mit einer Community, die die Utopie vom gemeinschaftlichen Renn-Festival aktiv mitgestalten will, könnte "Forza Horizon 4" so mit der Zeit noch viel besser werden als es jetzt schon ist. Und das will etwas heißen.
"Forza Horizon 4" ist am 2. Oktober 2018 für Xbox One und PCs mit Windows 10 erschienen.