Er ist für einen Oscar nominiert und für mich schon jetzt einer der Filme des Jahres 2019: "Free Solo" ist ein Dokumentarfilm, der Dich immer wieder ungläubig mit dem Kopf schütteln lässt. In meinem etwas persönlicheren Review verrate ich Dir, warum der Film nicht nur für Kletterer ein Must-see ist.
- Darum wollte ich "Free Solo" unbedingt sehen
- Der beste Free Solo Climber trifft auf den ikonischsten Fels der Welt
- Ist das Unmögliche möglich?
- Nicht nur Sportfilm, auch Charakterstudie
- Und ein Film übers Filmemachen
- Hoffentlich klappt's mit dem Oscar!
Ein kleiner Fehler – und Du bist tot. Dabei muss es nicht einmal Dein eigener Fehler sein. Beim Free Solo Climbing (oder kurz: Free Soloing) reicht ein kräftiger Windstoß und der Kletterer stürzt ungesichert in die Tiefe. Ein Vogel, der im falschen Moment vorbeifliegt oder ein Stück brüchiger Fels. Wo ein Seilkletterer ins Seil fallen würde, stürzt ein Free Solo Climber im Zweifel mehrere Hundert Meter in den sicheren Tod. Darum gibt es auch nicht (mehr) viele.

Aber ein Name steht für Free Solo Climbing wie kein zweiter: Alex Honnold. Wer sich nicht fürs Klettern interessiert, der wird diesen Namen vermutlich noch nie gehört haben, obwohl seine sportlichen Leistungen denen eines Sport-Superstars wie Cristiano Ronaldo oder Floyd Mayweather Jr. meiner Meinung nach in nichts nachstehen. Kletter-Kollege Tommy Caldwell bringt Honnolds Bestreben, El Capitan allein und ohne Seil zu bezwingen, gleich zu Beginn des Films auf den Punkt:
Stell dir eine sportliche Leistung auf dem Level von olympischem Gold vor, die – wenn du die Goldmedaille nicht bekommst – deinen sicheren Tod bedeutet.
Aber Klettern ist eben nicht Fußball oder Boxen. Nichts für die breite Masse oder millionenschwere Werbedeals. Trotzdem finde ich, dass "Free Solo" keine reine Sportdoku für Kletterer ist. Das zeigt nicht nur die Oscar-Nominierung als bester Dokumentarfilm.
Darum wollte ich "Free Solo" unbedingt sehen
Als ich vor ein paar Jahren das Bouldern und Klettern für mich entdeckt habe, bin ich bei YouTube ziemlich schnell auf Alex Honnold gestoßen. Kaum eine Person im Klettersport wirkte auf mich faszinierender. Wie kommt man dazu, massive Felswände ohne Seil zu klettern? Spoiler: Als schüchternes Kind klettert man lieber alleine, als jemanden zu fragen, ob er einen sichert. Aber dazu später mehr ...
Nachdem ich sein Buch "Alone on the Wall" gelesen hatte, war mir klar: Noch hat Alex Honnold nicht alles erreicht, was er möchte. Dass er irgendwann El Capitan, die wohl eindrucksvollste Felswand der Welt, free solo klettern würde, schien nur noch eine Frage der Zeit. Für mich, die 2016 einige Trails im Yosemite-Nationalpark gewandert ist und mittlerweile erste Klettererfahrungen gesammelt hat (wenn auch nur in-, nicht outdoor), ein schier unvorstellbares Vorhaben! Wer einmal ins Yosemite Valley gefahren ist, wird unweigerlich angehalten und mit offenem Mund den knapp 1000 Meter hohen "El Cap" hochgeschaut haben.
Als wir den überaus anstrengenden Trail zu den Yosemite Falls hoch geschafft hatten und ich für ein Foto auf ein Stück hervorragenden Fels kletterte, fiel mir mein Smartphone aus der Jackentasche – und rund 700 Meter in die Tiefe. Im Nachhinein hoffe ich sehr, dass keine Kletterroute unterhalb dieses Aussichtspunktes langführt ...
Der beste Free Solo Climber trifft auf den ikonischsten Fels der Welt
Von den steilen Granitwänden des Yosemite-Nationalparks, der seit 1984 UNESCO-Weltnaturerbe ist, geht eine ganz besondere Faszination aus. Kein Wunder also, dass sich Yosemite zum Zentrum der Kletterwelt entwickelt hat. Die eindrucksvollste dieser Felswände, El Capitan, erhebt sich mehr als 900 Meter über das Tal und wurde 1958 erstmals bezwungen. Damals brauchten die Kletterer um Warren Harding noch 46 Tage verteilt über 16 Monate – mit Seil natürlich.
El Cap ist die eindrucksvollste Felswand der Welt.

Erst 1979 gelang es dem amerikanischen Sportkletterer Ray Jardine, eine Route an El Cap frei zu klettern. Beim Freiklettern werden Seil, Haken und Co. lediglich zur Sicherung verwendet, aber nicht für den Aufstieg genutzt. Einen Versuch, El Capitan free solo – also komplett ohne Sicherung – zu klettern, gab es vor Alex Honnold nicht.
Ist das Unmögliche möglich?
Und auch er glaubte nicht von Anfang an daran, dass eine Free-Solo-Begehung machbar sei. Um den Gedanken kam er allerdings nicht herum, schließlich verbringt er die meiste Zeit seines Lebens in einem Van im Yosemite Valley. So startete Alex seit 2009 in jedes Jahr mit dem Gedanken: "Dieses Jahr werde ich El Cap free solo klettern." Dann trainierte er mit Seil an der Felswand und musste Jahr für Jahr wieder feststellen: "Dieses Jahr nicht. Es ist unmöglich." Doch ihm war klar, dass er nie zufrieden sein würde, ohne es irgendwann einmal versucht zu haben:
Wenn ich es versucht habe und scheitere, dann ist es vielleicht etwas für zukünftige Generationen. Oder für jemanden, der nichts hat, wofür es sich zu leben lohnt.

Die Route, auf die er im Film hintrainiert, nennt sich Freerider und setzt sich aus 30 Seillängen (engl.: pitches) zusammen – die natürlich nur dann relevant sind, wenn man mit Seil klettert. Allerdings ermöglichen die Seillängen die Aufteilung der Route in gleichmäßige Abschnitte. Bei Freerider gibt es einige besonders schwere Abschnitte, bei denen auch Alex Honnold im Training schon unzählige Male ins Seil gefallen ist. Dazu zählt unter anderem Freeblast (Pitch Nummer 6)– ein Slab-Climbing-Abschnitt, der zwar weniger steil ist, dafür aber kaum Halt durch Tritte und Griffe bietet. Wie sehr sich Kletterer dabei auf ihre Balance und die Friktion ihrer Schuhe verlassen müssen, wird durch fast leinwandfüllende Kameraaufnahmen in "Free Solo" mehr als deutlich.

Doch nicht nur Freeblast zählt zu den Crux-Stellen der Freerider-Route. Sehr viel weiter oben wartet noch das sogenannte Boulder Problem (Pitch Nummer 23). Alleine die Vorbereitung mit Partner und Ausrüstung zerrt an den Nerven des Kinobesuchers. Es scheint Glückssache, ob er die Stelle, die als härtester Part der Route gilt, schafft oder nicht. Kein Wunder, dass ich bei seinem späteren Free-Solo-Versuch fast vergessen habe zu atmen. Regisseur und Kameramann Jimmy Chin schafft es auch, diesem Part durch den bewussten Verzicht auf Musik oder Kommentare noch mehr Dramatik zu verleihen. Stattdessen hört man fast nur noch den Atem des Kletterers. Gänsehaut pur!
Das Boulder Problem, das Alex Honnold ohne Sicherung in gut 600 Metern Höhe kletterte, stellt erfahrene Sportler selbst unter vereinfachten Boulder-Gym-Bedingungen vor eine fast unlösbare Aufgabe. Gemeinsam mit Honnold schraubte Sportkletterer Louis Parkinson das Boulder Problem in der Halle nach – und scheiterte vermutlich die ersten 50 Male.
Nicht nur Sportfilm, auch Charakterstudie

"Free Solo" schafft es aber nicht nur, eine ungefähre Vorstellung von der unmöglich scheinenden sportlichen Leistung Alex Honnolds zu vermitteln. Der Film zeichnet auch ein interessantes Porträt des Kletterers, der regelmäßig sein Leben riskiert. Das liegt vermutlich auch daran, dass beide Regisseure nicht nur einen Bezug zur Kletterszene haben, sondern vor allem Jimmy Chin bereits seit Jahren mit Alex befreundet ist.
Ich werde Klettern immer einer Frau vorziehen – zumindest habe ich das bislang immer getan.

Dass es sich bei Alex Honnold nicht um einen völlig gewöhnlichen Menschen handeln kann, dürfte bis hierhin klar geworden sein. In "Free Solo" lernst Du etwas über die teils banal wirkenden, teils schon verstörenden Gedanken dieses außergewöhnlichen Sportlers. So beschreibt Honnold nicht nur, dass er als Kind und Jugendlicher schlicht zu schüchtern gewesen sei, um jemanden zu bitten, ihn beim Klettern zu sichern, und so zum Free Soloing kam. Er spricht auch über den eigenen Tod, als wäre es keine große Sache für die ihm nahestehenden Personen – eine ziemlich verzerrte Wahrnehmung.
Und ein Film übers Filmemachen

Den Kameramännern, allesamt selber erfahrene Kletterer, ist das umso bewusster. "Free Solo" zeigt nämlich auch, in was für einem inneren Konflikt sich Regisseur und Co. befinden. Jimmy Chin macht deutlich, dass er sich vorab einfach Gedanken darüber machen muss, ob er mit dem Worst-Case-Szenario leben könnte.
Es ist schwer, sich nicht vorzustellen, wie dein Freund vor den Augen deiner Kamera in den Tod stürzt.

Natürlich besteht die Sorge, dass ein Filmvorhaben ungewollt Druck auf Alex ausüben könnte, etwas zu tun, das er ansonsten nicht getan hätte. Alle Kameramänner mussten außerdem mit dem Gedanken leben, dass die kleinste Unachtsamkeit ihrerseits den Tod eines Freundes bedeuten könnte. Sie standen also nicht nur vor der Herausforderung, den Free-Solo-Versuch beim ersten und einzigen Versuch filmisch perfekt und visuell ansprechend einzufangen. Sie mussten sich gleichzeitig aufs Klettern konzentrieren und darauf achten, nicht die kleinste Unachtsamkeit zu begehen, etwa eine Objektivabdeckung fallen zu lassen oder Ähnliches.
Hoffentlich klappt's mit dem Oscar!
"Free Solo" war für mich 100 Minuten reinster Nervenkitzel – und das, obwohl ich den Ausgang des Films kannte. Natürlich hatte ich die Free-Solo-Besteigung von El Capitan in den sozialen Medien verfolgt und alles zum Thema hinterher förmlich aufgesogen. Ich wusste, dass Alex Honnold noch lebt und auf Pressetour ist, um den jetzt sogar oscarnominierten Dokumentarfilm zu bewerben. Trotzdem: Bei vielen Filmaufnahmen kann man einfach nicht anders, als den Atem anzuhalten.

Ich werde mir "Free Solo" wohl auch noch mehrfach ansehen und ihn weiterempfehlen. Das Gute ist ja, dass man den Film eigentlich nicht spoilern kann – man weiß, dass alles gut gehen wird und sitzt trotzdem mit in den Sessel gekrallten Fingern im Kino. Man kann nur die Daumen drücken, dass "Free Solo" den Oscar für den besten Dokumentarfilm und somit etwas mehr Aufmerksamkeit auch außerhalb der Kletterszene bekommt.
Diese so unvorstellbare menschliche Leistung, eine 1000 Meter hohe, senkrechte Felswand, ohne Hilfsmittel zu besteigen, hat einfach mehr Anerkennung verdient! Alex Honnold brauchte dafür übrigens 3 Stunden und 56 Minuten. Der vorherige Rekord einer Alleinbegehung (mit Seil) lag bei 20 Stunden und 6 Minuten. Das ist eben Alex "No big deal" Honnold ...
"Free Solo" kommt am 21. März 2019 auch in deutsche Kinos.