Die Premiere von "His Dark Materials" nahm uns mit in das Oxford von Lyras Welt und erklärte vieles, von Dæmonen bis Staub. Episode 2 führt uns nach London und enthüllt so manches Geheimnis. Anders als in der ersten Folge weicht die Serie an einigen Stellen merklich von der Buchvorlage ab. Was das für die weitere Handlung der TV-Adaption bedeuten könnte und welche Sequenzen mich stutzig gemacht haben, liest Du im Recap.
- Im goldenen Käfig
- Die tausend Gesichter der Mrs. Coulter
- Der Draht zwischen Mensch und Dæmon
- Wo der Kaffee besser schmeckt
- G.O.B.
- Fazit
Im goldenen Käfig

Episode 2 setzt direkt an, wo Folge 1 aufgehört hat: bei Lyras Ankunft in Mrs. Coulters Luxusappartement in London. Zusammen mit Lyra staunt der Zuschauer über den glänzenden Mamor und die glitzernden Möbel – die Umgebung erinnert ein wenig an "Gossip Girl". Doch schon im nächsten Moment erinnert uns eine einzige Nahaufnahme daran, dass nicht alles Gold ist, was glänzt: Mrs. Coulter verriegelt den Aufzug und sichert ihn zusätzlich mit einem PIN-Code.
Glitzer und Glamour hin oder her: Die prachtvolle Unterkunft gleicht einem Gefängnis, auch wenn Lyra das nicht sofort erkennt. Das Mädchen soll gehorchen und sich "ändern", um "herausragend" zu werden – nach den Maßstäben von Mrs. Coulter, versteht sich. Zudem ist es der Elfjährigen nicht gestattet, bestimmte Räume zu betreten, und bei der Kleidung hat Mrs. Coulter das letzte Wort. Einschluss, Verbote, Regeln. Einen krasseren Gegensatz zum freien Rumtreiber-Dasein des Mädchens im Oxforder Jordan College hätten die Serienmacher kaum inszenieren können.
Was bei Verstößen gegen die neuen strengen Regeln passiert, muss Lyra schnell am eigenen Leib erfahren – beziehungsweise an dem ihres Dæmons Pan. Denn: Die Fassade der strahlenden Mrs. Coulter bröckelt.
Die tausend Gesichter der Mrs. Coulter

Vorweg sei gesagt: Mrs-Coulter-Darstellerin Ruth Wilson macht in Episode 2 von "His Dark Materials" einen fantastischen Job! Sie verleiht ihrem Charakter eine unglaubliche Komplexität. Im einen Moment fürchtet der Zuschauer Marisa Coulter, im nächsten mag er sie und manchmal will er fast Mitleid mit ihr haben. Wenn sie an der leeren Badewanne sitzt und ins Leere starrt oder auf dem Balkon über ihren "Drang zu springen" spricht, wirkt sie geradezu verloren. Aber dann folgt wieder die dunkle Seite, das andere Gesicht der Mrs. Coulter.
Wie aus dem Nichts bricht dieses kalte, kontrollwütige Wesen hervor: Mit einem animalischen Laut lässt sie ihren Affen-Dæmon auf Lyras Dæmon Pan losgehen und diesen gewaltsam zu Boden drücken. Das Mädchen windet sich vor Schmerzen. Bis ein einziger Name fällt und eine der bislang größten Abweichungen von der Romanvorlage einläutet: Asriel.
In der Serie ist es Mrs. Coulter, die Lyra im Zorn verrät, dass ihr "Onkel" Lord Asriel eigentlich ihr Vater ist – nicht die einfühlsamen Gypter Farder Coram und John Faa. Erstaunt hat mich die Reaktion von Lyra: Im Buch ist sie prompt glücklich, geradezu stolz auf diese Tatsache. In der TV-Show beschimpft sie Asriel als Lügner und scheint tief verletzt.
Der Draht zwischen Mensch und Dæmon
Ihre Abstammung ist nicht die einzige schockierende Erkenntnis, die Lyra in der aktuellen Folge macht. Schnell stellt sie entsetzt fest, dass Mrs. Coulter und ihr Dæmon sich "unnatürlich weit" voneinander entfernen können. Normalerweise kann ein Dæmon sich nur wenige Schritte von seinem Mensch fortbewegen.
Im Roman "Der Goldene Kompass" von Philip Pullman wird diese Fähigkeit von Marisa Coulter ebenfalls erwähnt, wenn auch nur als Randnotiz. Eine Erklärung bleibt der Autor den Lesern schuldig. Im Buch heißt es lediglich:
"Als Lyra das sagte, merkte sie auf einmal, dass Mrs. Coulter allein war, ohne ihren Dæmon. Wie war das möglich? Einen Moment später erschien der goldene Affe jedoch wieder an ihrer Seite und Mrs. Coulter bückte sich, nahm seine Pfote und schwang ihn sich ohne Anstrengung auf die Schulter. Schlagartig schien die Anspannung von ihr abzufallen."
Bedeutet das, Mrs. Coulter erträgt die Trennungsschmerzen einfach in stiller Qual? Oder gibt es eine andere Erklärung für ihre "Gabe" (Stichwort für Romanleser: Hexen)? Bleibt zu hoffen, dass uns die Serie eine Antwort liefert.

Wo der Kaffee besser schmeckt
Unterdessen betritt der fiese Lord Boreal vom Magisterium eine andere Welt. Richtig gelesen! "His Dark Materials" stellt den Plot-Verlauf aus Pullmans Trilogie auf den Kopf: Schon in Folge 2 tauchen erste Elemente aus dem zweiten Roman "Das Magische Messer" auf. Da kann ich mir ein "Moment, jetzt schon?" nicht verkneifen.
Seelenruhig spaziert der Mann mit dem Schlangen-Dæmon durch ein "Fenster" in einem verlassenen Gewächshaus in eine reale Version des Jahres 2019. Er steigt in ein Auto, schaltet sein Smartphone ein. Es ist eindeutig nicht das erste Mal, dass Lord Boreal zwischen den Welten wandelt. Der Kaffee schmecke auf dieser Seite einfach besser, erklärt er seinem Kontaktmann. Aber wegen des flüssigen Goldes ist Boreal nicht in die Parallelwelt gereist: Er sucht den Forscher Dr. Grumman. Gut möglich, dass wir eher früher als später auf einen nicht ganz unwichtigen Jungen treffen!
G.O.B.
Wieder zurück in London spitzt sich die Lage zu. Lord Boreal tötet eine Journalistin auf die unsagbarste Art in der "His Dark Materials"-Welt: Er zerquetscht ihren Dæmon. Die Reporterin hatte Lyra zuvor auf Mrs. Coulters Cocktailparty gesteckt, dass Marisa Coulter die Anführerin der Gobbler alias der General-Oblations-Behörde (kurz: GOB) ist, die Experimente an unschuldigen Kindern durchführt. Verständlich, dass das Mädchen prompt die Flucht ergreift. Blöd nur, dass sie dabei direkt den Gobblern in die Arme läuft!
Fazit: "Der Norden" enthält noch keinen Norden.
Der Episodentitel "Der Norden" ist irreführend, vom Norden ist in der Folge ebenso wenig zu sehen wie von Panzerbären und Aeronauten. Aber "His Dark Materials" ist eindeutig auf dem richtigen Weg – nicht nur, was die für die Handlung wichtige Himmelsrichtung betrifft.
Die Serie traut sich in Episode 2, erste Schritte abseits der Buchvorlage zu machen, bleibt aber nah genug an der Handlung, um die Fans von Pullmans Romanen nicht vor den Kopf zu stoßen. Zudem ist das Produktionsdesign wunderschön, und die Serie gibt interessanten Charakteren wie Mrs. Coulter viel Raum zur Entfaltung. Ich kann es kaum erwarten, bis es wirklich in den Norden geht!