Die Erwartungen sind hoch: Mit "His Dark Materials" wollen HBO und BBC den nächsten großen Fantasy-Hit nach "Game of Thrones" landen. Doch es ist eine Herausforderung, der komplexen Welt aus der Bestseller-Trilogie von Philip Pullman gerecht zu werden – wie die bestenfalls mittelmäßige Verfilmung von 2007 beweist. So viel Stoff und so wenig Zeit. Ein Umstand, mit dem auch die erste Folge der neuen Serie hadert. Trotzdem bin ich von der Episode "Lyras Jordan" positiv überrascht.
- Viel hilft viel? Das Alethiometer sagt Nein!
- Das Mädchen, das überlebte
- Wissen ist Macht
- Von Gyptern und Gobblern
- The Queen in the North?
- Fazit
Viel hilft viel? Das Alethiometer sagt Nein!
In Deutschland ist die "His Dark Materials"-Romantriologie von Philip Pullman bekannt als "Der Goldene Kompass", "Das Magische Messer" und "Das Bernstein-Teleskop". Da ich die Bücher gelesen habe, fiel mir der Einstieg in die neue Serie leicht. Nicht-Leser dürften es da schwerer haben. Für sie versucht die erste Folge vieles zu erklären – möglicherweise zu viel auf einmal.
Die einstündige Episode vermittelt Hintergrundwissen zu den Dæmonen, dem Alethiometer, dem Magisterium, den Gyptern und den Gobblern. Zusätzlich führen die Showrunner hastig einen zentralen Charakter nach dem anderen ein. Der Serie ist in der ersten Folge anzumerken, dass Staffel 1 nur auf acht Episoden ausgelegt ist, die Ausgangslage soll schnell erklärt werden.
Gleich zu Beginn liefert ein Epilog die ersten Erklärungen zu Pullmans Universum: "Ach, übrigens: Diese Serie spielt in einer Parallelwelt, in der jeder Mensch einen Dæmon hat, eine Manifestation seiner Seele außerhalb des Körpers. Das böse Magisterium, das aus der Kirche hervorging, herrscht über alle, und hatten wir schon erwähnt, dass es um ein rebellisches Kind geht? Das ist wichtig!" Mir wäre es lieber gewesen, die Episode hätte sich mehr Zeit für den Weltenbau genommen und diese Eckpfeiler elegant in die Handlung eingewoben. Aber wer sich auf acht Folgen zu beschränken hat, muss wohl von Zeit zu Zeit zum Holzhammer greifen.

Das Mädchen, das überlebte
Der eigentliche Einstieg in Folge 1 ist viel besser gelungen: Der Forscher Lord Asriel ("X-Men"-Darsteller James McAvoy) bringt einen Säugling ins Oxforder Jordan College. Er bittet den Rektor, sich um das Baby und dessen Dæmon zu kümmern, beruft sich auf das "akademische Zufluchtsrecht".
Das Besondere: Die Ankunft von Lyra ("Logan"-Star Dafne Keen) und Pantalaimon im Jordan College gab es so noch nicht zu sehen, selbst in den Büchern wird die Geschichte nur kurz angerissen. Der Zuschauer versteht sofort, dass das Damoklesschwert von Geburt an über dem Kopf des Mädchens schwebt. Mehr noch: Lyra fühlt sich als Waise in den ehrwürdigen Mauern der Akademie wie zu Hause – wer sich an "Harry Potter" erinnert fühlt, liegt nicht daneben.

Wissen ist Macht
Zeitsprung in die Gegenwart: Lyra ist mittlerweile elf Jahre alt, einen Brief aus Hogwarts hat sie aber nicht bekommen. Stattdessen liefert sie sich Wettrennen mit ihrem besten Freund, dem Küchenjungen Roger (Lewin Lloyd), und erkundet die Krypta unter dem College.
Einer der seltenen Besuche von Lord Asriel beendet die Idylle. Nachdem sie ihren Onkel davor bewahrt, vom ach so netten Rektor vergiftet zu werden, darf sie für ihn spionieren. Schnell wird klar, warum der Rektor Lord Asriel gern aus dem Weg geräumt hätte: In einem dramatischen Vortrag verkündet der Entdecker die Existenz anderer Welten und des geheimnisvollen Staubs, Beweisfoto inklusive.
Im Buch ist die Entdeckung an sich spektakulär genug, Asriel bittet um mehr Fördergelder, das war's. Nicht so in der TV-Adaption: Mit großem Trara und glühendem Eifer ruft Asriel zum Krieg gegen das Magisterium auf. Sein Kollege Dr. Grumman wurde eindeutig von der undurchsichtigen Institution aus dem Weg geräumt, weil er von den Welten wusste, die nicht unter der Fuchtel des Magisteriums stehen. Da ist er wieder, der Holzhammer.
Von den wenigen Veränderungen an der Vorlage, die die TV-Macher rund um Drehbuchautor Jack Thorne vorgenommen haben, ist nur diese wirklich plump. Die subtile Kritik am Einfluss von Religion auf die Politik und an der Macht der Kirche über die Gesellschaft, die Pullman in seinen Büchern übt, wird dem Betrachter der Serie regelrecht entgegen gebrüllt. Das Magisterium bezeichnet Menschen, die eigenständig denken wollen, als Ketzer – die Showrunner trauen den Zuschauern offenbar ebenfalls keine Eigenständigkeit zu. Sicher ist sicher.
Ich bin aber froh, dass sich die Serie überhaupt an die Kritik am Klerus heranwagt. Schließlich wurde der "Der Goldene Kompass"-Film von 2007 in Grund und Boden zensiert, nachdem katholische Verbände weltweit empört protestierten. So weit hergeholt ist Pullmans Geschichte um das herrschende Magisterium dann doch nicht.
Von Gyptern und Gobblern
Wirklich interessant wird es, als die Gypter ihr TV-Debüt feiern, ein Volk, das auf Hausbooten lebt. In einer Art Initiationsritus feiert ein Gypter-Clan, dass der Dæmon des jugendlichen Tony Costa (Daniel Frogson) seine Gestalt nicht mehr verändert – Tony gilt jetzt als erwachsen. Die Szene hebt die Gemeinschaft der Gypter deutlich vom Rest der "His Dark Materials"-Gesellschaft ab. Einer der Gypter bringt es auf den Punkt: "Manche sehen uns als Außenseiter." Was das für diese Minderheit genau bedeutet, darauf geht die Episode nicht weiter ein. Aber was nicht ist, kann ja in Folge 2 noch werden!
Etwas irritiert hat mich das Casting von Ma Costa. Die Löwenmutter unter den Gyptern hat im Roman von Pullman "Pranken wie Totschläger". Eine Formulierung, die sich mir ins Gedächtnis gebrannt hat – und die auf die Britin Anne-Marie Duff mit ihrer zierlichen Gestalt so gar nicht zutrifft. Einen besseren Job haben die Casting-Agenten bei John Faa, dem König der westlichen Gypter, gemacht: Lucian Msamati, bekannt als Salladhor Saan aus "Game of Thrones", verleiht dem Anführer eine Aura von Macht und Respekt gebietender Ruhe.

Das krasse Gegenstück zu den herzlichen Gyptern: Tonys jüngerer Bruder Billy Costa wird von einigen düsteren Gestalten verschleppt, den sogenannten Gobblern. Hier haben die Serienmacher den Begriff "Dæmon" allerdings zu wörtlich genommen – der albtraumhafte Auftritt des Fuchs-Dæmons eines der Entführer erscheint etwas übertrieben. Vom gewaltfreien Anlocken und Beeinflussen der naiven Kinder wie in den Büchern fehlt jede Spur.
The Queen in the North?
Bühne frei für Marisa Coulter (Ruth Wilson)! Die elegante Wissenschaftlerin schlägt Lyra sofort in ihren Bann: Charmant erzählt sie dem wissbegierigen Mädchen Anekdoten aus dem hohen Norden. Eine Frau, die im rauen Norden forscht, in dem auch Lord Asriel stets unterwegs ist! Lyra ist sofort Feuer und Flamme.
Als Mrs. Coulter verspricht, sie und Roger mitzunehmen, scheint ein Traum wahr zu werden. Doch dann verschwindet Roger. Das Alethiometer, das Lyra vom Rektor erhält, könnte helfen. Blöd nur, dass sie keinen Schimmer hat, wie sich der Wahrheitsmesser lesen lässt – noch nicht ...

Fazit
"His Dark Materials" läuft etwas langsam an und überflutet den Zuschauer mit Informationen. Dennoch entwickelt die Serie von Anfang an eine Sogwirkung: Die fantastische Welt von Pullman ist so reich an Details, und die Dæmonen wirken so real, dass man einfach mehr davon sehen will – und rätselt, welche Gestalt der eigene Dæmon wohl hätte (in meinem Fall vermutlich eher ein Faultier als ein Schneeleopard).
Der zentrale Cast überzeugt in der ersten Folge ebenfalls (bis auf das Ma-Costa-Mysterium). Und das Beste mit Blick auf die Zukunft: Die TV-Adaption basiert auf bereits vorliegenden Büchern. Ein Ende wie bei "Game of Thrones" dürfte den Fans also erspart bleiben.
Ich bin gespannt auf Folge 2!