Dass Crystal Dynamics bei der Gamescom-Präsentation von "Marvel’s Avengers" einen ungewöhnlichen Spagat vollführen würde, hatte ich erwartet. Berichte kündigten eine Gameplay-Demo an, die recht weit von dem entfernt ist, was das Studio aus Kanada später als fertiges Spiel verkaufen will. In Köln wurde ich nun selbst Zeuge davon – und blieb etwas ratlos zurück.
Am Presse-Stand von Square Enix konnte ich einen Teil von "Marvel’s Avengers" zunächst selbst spielen – das Tutorial, in dem gleichzeitig das Setting des Games etabliert wird und das mittlerweile komplett auf Youtube zu sehen ist.
Die Story der Einführungs-Missionen in aller Kürze: Während ein neues Hauptquartier der Westküsten-Avengers mit Volksfest-Stimmung eröffnet wird, greift eine Gruppe Terroristen die Golden Gate Bridge an und entführt einen gigantischen Heli-Carrier. Als Spieler schlüpfe ich nacheinander in die Haut von Thor, Iron Man, Black Widow, Captain America und Hulk und absolviere jeweils äußerst lineare Spielabschnitte.
Das Gameplay ist den Kämpfen in "Marvel’s Spider-Man" für die PS4 gar nicht so unähnlich. Ein einfach zu lernendes Kampfsystem mit Spezial- und Ultimativ-Angriffen,dazu Jump-and-Run-Abschnitte und Quick-Time-Events. Am Ende der Demo gibt es noch einen Bosskampf mit Black Widow, in dem sie den Schurken Taskmaster standesgemäß vermöbelt. So weit, so einfach.
"Marvel's Avengers" ist nicht das Spiel, das ich spielen durfte
Anhand des Gezeigten könnte man nun davon ausgehen, bei "Marvel’s Avengers" handele es sich um ein schillerndes, wenn auch wenig außergewöhnliches Action-Adventure. Nach dem Spielen wurde ich dann aber in einen anderen Raum geführt, in dem Studio-Leiter Scot Amos beschreibt, dass Crystal Dynamics eigentlich ein ganz anderes Game entwickelt – so erscheint es mir zumindest.
In "Marvel’s Avengers" soll es darum gehen, die Superheldentruppe wieder zu vereinen und die Welt aus den Händen der technokratischen Organisation A.I.M. zu befreien. Diese hat nach dem Fall der Avengers Recht und Ordnung in die Hand genommen, führt aber natürlich nichts Gutes im Schilde. Der Spieler baut daher einen lädierten Heli-Carrier Schritt für Schritt zu seiner mobilen Einsatzbasis aus, von der aus er mit unterschiedlichen Loadouts in Missionen startet.

Solo und Koop werden fein säuberlich getrennt
Missionen soll es in zwei Varianten geben: Hero-Missionen sind lineare Singleplayer-Aufträge, die die Story eines speziellen Helden vorantreiben. Warzone-Missionen sind dagegen Koop-Herausforderungen für vier Spieler (also nicht für alle fünf Avengers), die mit beliebigen Figuren gespielt werden können. Die Hero-Missionen werden in Umgebungen stattfinden, die speziell auf die Fähigkeiten des jeweiligen Helden zugeschnitten sind, damit der Hulk zum Beispiel auch genügend Autos findet, mit denen er um sich schmeißen kann. In Warzone-Missionen dagegen sollen die Fähigkeiten mehrerer Helden in Kombination ihre Wirkung entfalten.
Die Spieler sollen unterschiedliche Eigenschaften, Spezialangriffe und Ultimativ-Fähigkeiten aufleveln und Items in verschiedenen farblich codierten Seltenheits-Stufen ausrüsten und modifizieren. Selbst Bau-Ressourcen sollen gesammelt werden, von einem Crafting-System ist die Rede.
"Destiny" mit Marvel-Superhelden? Klar, immer her damit!
Jedoch: Von alledem gab es auf der Gamescom nichts zu sehen. Selbst die bei der Präsentation gezeigten Ausrüstungs-Bildschirme und Fertigkeiten-Menüs waren statische Bilder, die mir nicht mal wie echte Screenshots vorkamen, sondern eher wie Konzept-Grafiken.
Amos beschreibt ein Koop-Spiel, das ähnlich umfangreich werden soll wie "Destiny 2". Vom Heli-Carrier aus sollen die Spieler verschiedene Maps bereisen können, nach und nach werden dann neue Teile der Spielwelt freigeschaltet, in denen weitere Warzone- und Hero-Missionen warten. Zusätzlich soll "Marvel’s Avengers" auch für Kampagnen-Liebhaber alles bieten, was das Herz begehrt.
Und dann gibt's noch kosmetische Leckerbissen aus 80 Jahren Marvel-Historie. Verschiedene Captain-America-Kostüme oder Outfits für den Hulk, bis hin zum 1930er-Jahre-Anzug mit Hut. Ich kenne Fans, die ihren rechten Fuß verpfänden würden, um im Iron-Man-Anzug mit der Modellnummer Mark 3 herumfliegen zu dürfen. Dank "Marvel's Avengers" geht das bald vielleicht auch für ein wenig Ingame-Währung.
Bitte nicht noch eine Service-Game-Leidensgeschichte
Klingt nach einem Rundum-Wohlfühl-Paket für Marvel-Fans, die sich bisher meist mit mittelmäßigen Videospiel-Umsetzungen zufriedengeben mussten. Klingt aber auch nach viel nötigem Feintuning, wenn es darum geht, die richtige Balance für Mechaniken und Spielmodi zu finden.
Das weckt ungute Erinnerungen: Auch Bungie haute bei seinen zwei "Destiny"-Games jedes Mal kräftig daneben und musste jahrelang an der Formel herumschrauben, um die Community zufriedenzustellen. Die hat selbst großen Anteil daran, dass sich "Destiny 2" so lange zurechtgerüttelt hat, bis es für viele zum Nonplusultra in Sachen Service-Shooter wurde.

"Marvel's Avengers" könnte auch ein solcher Prozess bevorstehen, bis es zu dem Spiel wird, von dem Crystal Dynamics mir auf der Gamescom 2019 erzählt hat. Zwar bekamen die Kanadier einen erzählerischen Reboot in den "Tomb Raider"-Prequels zuletzt gut hin, mit Online-Multiplayer-Titeln haben sie aber noch nicht groß auf sich aufmerksam gemacht.
Das muss nichts heißen und ich als Marvel-Fan kann mir sehr gut vorstellen, Hunderte Stunden in ein "Destiny" mit Comic-Superhelden zu versenken. Aber ich hoffe sehr, dass "Marvel's Avengers" nicht ein ähnliches Martyrium durchstehen muss wie BioWares überambitioniertes "Anthem".
Bis zum Release im Mai 2020 ist noch Zeit und ich hoffe, dass Square Enix den Entwicklern Aufschub gewährt, falls das nötig ist. Spiele, die unfertig erscheinen und erst nach dem Release nach und nach ihre Vision erfüllen, gibt es schließlich genug.