Filmkritik

"i'm thinking of ending things"-Kritik: Gefangen im eigenen Leben

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Unheilvoller Blick: Es ist alles nicht ganz einfach. Bild: © Mary Cybulski/NETFLIX 2020

Wenn Charlie Kaufman einen neuen Film rausbringt, weiß man: Es wird skurril. Der oscarprämierte Regisseur und Drehbuchautor legt mit "i'm thinking of ending things" ein groteskes Drama vor, in dem es um unsere Lebensentscheidungen geht, die Frage nach dem Sinn, Quantenphysik und, natürlich, um Eiscreme.

"Being John Malkovich". "Adaption". "Vergiss mein nicht". "Synecdoche, New York". "Anomalisa". Die Filme von Charlie Kaufman sind keine ganz leichte Kost. Sie sind versponnen und bis zur Undurchdringlichkeit skurril, experimentell und abgedreht. Dabei aber keine abgehobenen Kunstfilme für eine intellektuelle Elite, denn bei aller Exzentrik haben sie doch zumeist einen tief menschlichen Kern – auch wenn man das Hadern mit der Tragikomödie unseres Daseins manchmal eher spürt als in konkrete Worte fassen kann. Willkommen bei "i'm thinking of ending things", der gerade auf Netflix angelaufen ist.

Vorhölle Eltern-treffen

Eine junge Frau (Jessie Buckley) fährt mit ihrem Boyfriend Jake (Jesse Plemons) zu seinen Eltern – zum ersten Mal. Die beiden sind erst sieben Wochen zusammen, aber die ganz große Liebe ist es nicht. Die Frau (und nein, ich habe nicht ihren Namen vergessen; wie sie tatsächlich heißt, wird nie geklärt, aber zu viel zu verraten, wäre fast ein Spoiler) spürt eine gewisse Ziellosigkeit in ... tja, worin? In dieser Beziehung? In ihrem Leben? In allem? Sie denkt darüber nach, Schluss zu machen.

"Hast Du was gesagt?", fragt Jake plötzlich. Nein, sie hat nichts gesagt, sie hat nur still vor sich hingedacht – aber Jake hat ihre Gedanken gehört. Seltsam. Und nur der Auftakt zu einer zweistündigen Reise in ein (alb)traumartiges Land der Skurrilität, in dem nichts so ist, wie es scheint. Oder doch?

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So guckt man auch, wenn man diesen Film zum ersten Mal sieht. Bild: © Mary Cybulski/NETFLIX 2020

Auf dem Hof der Eltern angekommen, wird alles nur noch seltsamer. Der Hund schüttelt sich und hört gar nicht mehr auf. Die Frau glaubt kurz, sich selbst als kleines Mädchen auf einem alten Familienfoto zu sehen – unmöglich. Und auch die Eltern sind nicht ganz koscher: Die Mutter (Toni Collette mal wieder spitze) überspielt ihre Nervosität mit überkandideltem Lachen und verwechselt "Genus" mit "Genie", der Vater (David Thewlis) hasst abstrakte Kunst und macht das auch sehr deutlich. Und plötzlich, mitten im Film, sehen wir die letzte Szene einer fiktiven RomCom, der Abspann läuft – Directed by Robert Zemeckis, dem real existierenden Regisseur von Hollywood-Klassikern wie "Zurück in die Zukunft" und "Forrest Gump".

Durch den Schneesturm unseres Lebens

Das ist aber nur das erste Drittel, denn die junge Frau will dringend nach Hause, bevor ein fürchterlicher Schneesturm die Abfahrt unmöglich macht. Unterwegs holt sich Jake, der sich immer merkwürdiger benimmt, ein Eis. Und sie halten an Jakes alter Schule. Und sehen eine Ballettaufführung. Und ein animiertes Schwein sinniert über das Leben. Und das war noch lange nicht alles.

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Und Du denkst, DIR müssten Deine Eltern peinlich sein. Bild: © Mary Cybulski/NETFLIX 2020

"i'm thinking of ending things" hat so viele Bedeutungsebenen, ist so verschlungen und offen für Interpretationen, dass man sich um den halben Guck-Spaß bringt, wenn man kleinkrämerisch jedes Detail entschlüsseln will. Ähnlich wie in den Filmen des Surrealismus-Großmeisters David Lynch wirkt "ending things" zunächst einmal emotional und nicht unbedingt rational. Viele groteske Einzelszenen lassen uns verstört zurück, aber wir spüren doch, worum es hier wirklich geht: um Selbstzweifel, Bedauern, die trügerische Überzeugungskraft unserer (falschen) Erinnerungen, um Liebe, unsere Sterblichkeit und die Sehnsucht, uns als Teil von etwas Allgemeinem zu begreifen.

Allerdings heißt das nicht, dass Charlie Kaufmans neuer Film nun überkomplex und unverständlich ist – spätestens beim zweiten Gucken, wenn man den Schock der ersten Verwirrung überwunden hat und auf die subtil eingeflochtenen Details achtet, dämmert einem, wie der Hase wirklich läuft. Aber das erfordert eben unsere volle Aufmerksamkeit. "i'm thinking of ending things" ist kein Film, den man mal so nebenher laufen lässt und derweil Twitter checkt.

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So guckt man auch, wenn man diesen Film zum ersten Mal – nein, warte, das hatten wir schon. Bild: © Mary Cybulski/NETFLIX 2020

Alles Mist. Trotzdem.

Leicht macht es einem Charlie Kaufmans dritte Regie-Arbeit nicht. Aber sie passt auf eine fast schon unheimliche Art perfekt zu unserer angespannten, verwirrten und verwirrenden Corona-Zeit, in der wahnsinnig viele Dinge passieren und die Zeit gleichzeitig stillzustehen scheint. In der wir nach innen gucken, von Selbstzweifeln, Unsicherheit und sogar Depressionen zerfressen werden und das Gefühl haben, dass uns buchstäblich die Decke auf den Kopf fällt. In der uns die Enge unserer Routine manchmal fast erdrückt.

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Real oder Einbildung? Und ist das wichtig ...? Bild: © Mary Cybulski/NETFLIX © 2020 2020

Aber so ist nun mal das Leben, es ist schwer und anstrengend und manchmal, im Großen und Ganzen: enttäuschend. Es gibt kein Happy End, kein Anrecht auf Glück und Zufriedenheit und die große, wahre Liebe. Hollywood lügt, hat es schon immer getan. Aber gibt uns diese Lüge nicht erst die Kraft, weiterzumachen, uns jeden Tag neu aufzuraffen und nach Erfüllung zu streben, selbst wenn wir sie nie finden werden? Und wenn ja: Wäre das so schlimm ...? – Nur eine von vielen Fragen, die "i'm thinking of ending things" stellt.

Nein, ein Guter-Laune-Film ist "i'm thinking of ending things" nicht. Aber unterschwellig doch ein hoffnungsvoller und lebensbejahender. Ja, momentan ist irgendwie alles Mist.

Aber noch lange kein Grund, Schluss zu machen.

Sendehinweis
"i'm thinking of ending things" läuft seit dem 4. September bei Netflix.
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