Okay, Butter bei die Fische. "Joker" ist entweder einer der besten Filme des Jahres oder eine gigantische Enttäuschung – dazwischen gibt es mittlerweile nicht mehr viel. Ich konnte ihn jetzt endlich sehen und lege mich fest: Dieser Film ist pures Kino, eine emotionale Achterbahnfahrt – und ein Meisterwerk.
- Kein Witz, sondern ein weltweites Kino-Phänomen
- "Joaquin Phoenix ist der Joker."
- Ein DC-Film, der kein DC-Film sein will
- Ist ein Film wie "Joker" unverantwortlich?
- Doch, so einen Film kann man uns zumuten
- Intensiv wie ein Oscar-Drama
Kein Witz, sondern ein weltweites Kino-Phänomen
Ich muss den Hype, den Todd Phillips' "Joker" in letzter Zeit umgeben hat, hier wohl nicht noch mal aufrollen, oder? Spätestens mit der Auszeichnung als "Bester Film" in Venedig ist die Erwartungshaltung in schwindelerregende Höhen gestiegen. "Joker" ist nicht einfach nur eine Comicverfilmung, er ist ein globales Event; einer dieser Filme, die man einfach sehen muss. Und da werden Vielgucker wie ich schon skeptisch – ich habe mich zu oft im Vorfeld von der Begeisterung mitreißen lassen, nur um dann ernüchtert aus dem Kino zu kommen. Don't believe the hype.
Aber im Fall von "Joker" ist alles, alles wahr. Das hier ist der beste Film, den ich dieses Jahr gesehen habe. Selbst jetzt, während ich diese Zeilen tippe, arbeitet er noch in mir, und das hat schon lange kein Film mehr ausgelöst. Er ist provokant, meisterhaft gefilmt, trotz minimaler Längen geradezu hypnotisch und er stellt ein paar unbequeme Fragen, ohne in die Falle zu tappen, allzu simple Antworten zu geben (was ihm viele Kritiker übrigens vorwerfen).

"Joaquin Phoenix ist der Joker."
Und dann diese Performance von Joaquin Phoenix. Er spielt den emotional angeknacksten Arthur Fleck. Fleck, der sein Geld als Miet-Clown verdient, ist ein armer Schlucker. Die Gesellschaft ignoriert ihn, eine üble Schlägerbande verdrischt ihn, seine Mitreisenden im Bus begegnen ihm mit Feindseligkeit und Abscheu. Wir sehen einen Leidenden: Unter großem emotionalen Stress muss er unkontrolliert lachen, das Lachen vermischt sich mit Weinen und es zerreißt einem fast das Herz.
Dieser Mann hat schwerwiegende psychische Probleme, das beschönigt der Film zu keiner Sekunde. Aber mehr als Medikamente und sinnlose Therapiesitzungen braucht er menschliche Wärme und Halt, er braucht Anteilnahme, vielleicht auch einfach nur ein bisschen Wertschätzung. Arthur Fleck ertrinkt in dieser Welt. Und niemand reicht ihm die Hand.

Wie Robert de Niro in "Taxi Driver" ist Arthur Fleck ein Produkt einer verrohten, lebensfeindlichen Gesellschaft. Joaquin Phoenix begnügt sich aber nicht damit, mit weiß geschminktem Gesicht und verzweifeltem Lächeln den Clown zu geben. Er hat sich für seine Rolle extrem runtergehungert, sein ausgemergelter Körper steht sinnbildlich für den Zerfall, der ihn umgibt.
Und Regisseur Todd Phillips hält fast fetischistisch drauf. Die Kamera saugt sich immer wieder an der ausgezehrten Gestalt fest, fährt langsam an spitzen Knochen und Rippenbogen unter der papierdünnen Haut entlang. Es ist unheimlich. Es ist unangenehm. Aber es hat eine morbide Faszination, von der man sich kaum freimachen kann. Joaquin Phoenix ist der Joker.

Ein DC-Film, der kein DC-Film sein will
Die vielleicht beste Entscheidung der Macher war, "Joker" so weit wie möglich vom DCU, dem DC-Filmuniversum, zu entfernen. Zwar taucht ein sehr junger Bruce Wayne auf, aber abseits der unvermeidlichen Batman-Referenz funktioniert dieser Film als vollkommen eigenständiges Drama, mit einem ganz spezifischen Tonfall und Look.
Die Handlung spielt in den frühen 80ern, was zwei entscheidende Vorteile mit sich bringt: Zum einen überträgt sich so die Entfremdung von der Welt, die Arthur Fleck spürt, fast unbewusst auf den Zuschauer. Das ist nicht unsere Welt, nicht unsere Zeit – die Farben schwanken oft zwischen ungesunden Grün- und Gelbtönen, die Autos sind klotzig, die Musik altmodisch. So wird Arthur zu unserem emotionalen Anker in dieser Geschichte; wir nehmen seine Perspektive ein, weil wir sonst genauso verwirrt und verloren wären, wie er sich fühlt.

Es ist albern und anmaßend, da von "Mittäterschaft des Zuschauers" zu sprechen. Aber wir erfahren das Gefühlsleben eines psychisch gestörten Mannes so unmittelbar und ungefiltert, wie es sich seit James Gunns Superheldengroteske "Super!" von 2010 kein Comicfilm mehr getraut hat. "Joker" ist eine ernste Charakterstudie, wie sie gerade in den 70ern und 80ern hoch im Kurs stand.
Zum anderen kann "Joker" so seine ganz eigene Geschichte erzählen, seinen eigenen Rhythmus und Sound finden, ohne ständig auf das omnipräsente DCU Rücksicht nehmen zu müssen. Es spielt keine Rolle, was in "Suicide Squad" passierte, und "Batman v Superman" haben wir ja ohnehin schon aus unserem kollektiven Gedächtnis gelöscht. Dieser Film hatte also alle kreativen Freiheiten. Und nutzt sie hemmungslos.
Das heißt in diesem Fall zum Glück: keine Explosionen, Schießereien oder seelenloses Action-Ballaballa aus dem Rechner. Dafür aber oscarwürdige Einzelszenen eines begnadeten Schauspielers und eine Bildsprache, bei der man aus jedem zweiten Frame einen Desktophintergrund machen könnte. "Joker" ist kein hübscher Film. Aber einer, der fantastisch aussieht.

Ist ein Film wie "Joker" unverantwortlich?
Für viele Kritiker geht es in einer Besprechung von "Joker" aber nicht um die filmische Qualität, sondern vor allem um eine bange Frage: Stachelt dieser Film zu Gewalt an? Ist "Joker" eine kaum verhüllte Rachefantasie all jener, die zu kurz gekommen sind? Haben frustrierte Incels (das steht übrigens für "involuntary celibates", also Männer, die gerne Sex hätten, ihn aber nicht haben) im psychopathischen Joker ihren Posterboy gefunden? Kurz: Muss unsere freie, aufgeklärte Gesellschaft vor einem brandgefährlichen Film wie "Joker" geschützt werden?
Ich will hier wirklich keine politische Debatte beginnen, aber vielleicht doch kurz meine Sicht der Dinge darlegen. Natürlich spiegelt "Joker" das aktuelle politische und gesellschaftliche Klima. Filme entstehen nicht im Vakuum. Und die Geschichte des kleinen Mannes, der so lange geschunden, gepiesackt und gedemütigt wird, bis er irgendwann durchdreht und blutige Vergeltung übt, scheint in Zeiten großer globaler Unruhe besonders aktuell zu sein. Einen Film wie "Joker" sehen wir heute bestimmt anders, als wir es noch vor ein paar Jahren getan hätten. Abgeklärter, misstrauischer. Vielleicht sogar mit Unbehagen. Denn während im Film Gothams Straßen brennen, brennt real die ganze Welt.

Doch, so einen Film kann man uns zumuten
Arthur Fleck ist der "Taxi Driver" Travis Bickle, er ist Tyler Durden aus "Fight Club", der singende, tanzende Abschaum der Welt, der diesen Wahnsinn nicht mehr mitmachen will und rebelliert. Diese Allmachtsfantasie ist aufregend und verführerisch; als würde man in einen Abgrund starren und Bauchkribbeln bekommen. Man würde niemals springen – aber der Nervenkitzel ist da, weil man es könnte.
Und das macht "Joker" für mich so beeindruckend, mal abseits des nahezu perfekten Handwerks: Wenn ein Film es schafft, dass ich der Faszination eines durchgeknallten Chaoten erliege, auch nur für einen Sekundenbruchteil, weil er mein archaisches Bedürfnis nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen befriedigt – dann spricht das vielleicht nicht für mich, aber ganz sicher nicht gegen den Film.
Wann haben wir eigentlich kollektiv beschlossen, dass Filme nicht mehr unbequem sein dürfen? Uns nicht mehr mit den hässlichen Seiten der Gesellschaft und uns selbst konfrontieren dürfen? Seit wann ist das "problematisch" und warum ist das in gewissen Kreisen gleichbedeutend mit einem moralischen Todesurteil? Sind wir wirklich so dünnhäutig und emotional instabil, dass man uns keinerlei Herausforderung mehr zumuten will? Hab ich ein Meeting verpasst?

Intensiv wie ein Oscar-Drama
Ob man in "Joker" nun ein politisches Statement sehen will, einen unverhohlenen Aufruf zu gewaltsamen Straßenprotesten oder einfach nur einen verdammt großartigen Film, bleibt wie immer jedem selbst überlassen. Mich hat dieses fantastisch gespielte, verstörende und visionäre Porträt eines gestörten Außenseiters zu jeder Sekunde gefesselt. Eine meiner Mit-Guckerinnen im Kino hat am Ende sogar geweint – weil sie den Film so intensiv fand. Ich kann's verstehen.
"Joker" ist einer der besten Filme des Jahres, für mich sogar der beste, dessen Einfluss auf künftige Comicverfilmungen noch nicht abzusehen ist. Liebe ihn oder hasse ihn, aber kalt lässt er garantiert niemanden. Volle Punktzahl.
