In Deutschland hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung in den letzten 100 Jahren fast verdoppelt – dem medizinischen Fortschritt (und der besseren Hygiene) sei dank. Gerade im Gesundheitsbereich ist Technik nicht wegzudenken, vor allem, wenn die Grenze zu Wellness verschwimmt. Von diesen Technologien werden wir in den nächsten Jahren garantiert hören.
Von Claus Urban
Fitness in Pillenform
Was es verspricht:
Das Paradies. Schließlich sucht die Menschheit schon (fast) seit ihrem Anbeginn nach einem Mittel, um nicht älter zu werden. Ein Hersteller mit dem passenden Namen "Elysium" beschreibt sein Produkt als "das erste zelluläre Gesundheitsprodukt der Welt". "Uns geht es darum, den Alterungsprozess zu verlangsamen, um die Fitness im Alter zu erhalten", sagt Elysium-Co-Gründer Eric Marcotulli. Die Tablette soll gegen das Todestriumvirat aus Krebs, Herzleiden und Diabetes, unsere Hauptfeinde im Alter, ankämpfen.
Klappen soll das durch ein Coenzym namens Nicotinamidadenindinukleotid (NAD+), das an zahlreichen chemischen Reaktionen im Stoffwechsel einer Zelle beteiligt ist. Ob das funktioniert? Gute Frage, schließlich ist der ultimative Test einer Langlebiggeitspille die Langlebigkeit. Ergebnisse sind so vermutlich erst in Jahrzehnten zu erwarten. Erste Studien zeigen, dass die Konzentration von NAD+ im Blut der Zielgruppe steigt – obwohl sie im Alter eigentlich abnimmt. Und obwohl die Nutzer sich angeblich fitter fühlen, heißt das natürlich erstmal gar nichts.
Wie weit die Forschung wirklich ist:
Bereits Mitte der 1990er Jahre entwickelte der Pharmakonzern GlaxoSmithKline ein Mittel, das Affen fitter und schlanker machte – quasi aus Versehen. Das Mittel, gegen Diabetes gedacht, senkte den Blutzuckerspiegel und kurbelte den Stoffwechsel an. Die Affen wurden groß und schnell, kräftig und ausdauernd, bauten Fett ab und Muskeln auf. Superaffen. Unangenehmer Nebeneffekt: Sie bekamen Krebs – ganz massiv und überall. Zwar stellte der Konzern die Forschung daraufhin ein, hatte aber bereits die Zusammensetzung verraten. Andere Wissenschaftler bauten die Pille nach, mit einer leicht anderen Zusammensetzung.
"Wir können Sport durch eine Pille ersetzen", sagte Roland Evans, einer von ihnen, dem New Yorker. Die Pille gaukelt dem Körper angeblich vor, er habe gerade einen halben Marathonlauf oder sechs Stunden im Fitnessstudio hinter sich – und die Zellen reagieren entsprechend auf diese Signale. Weil "516", benannt nach dem Rezeptor, zwar nicht zugelassen, für Recherchezwecke aber legal verkauft werden kann, wimmelt es in online Foren von Berichten über die Wunderwirkung des Produkts. Was allerdings langfristig passiert, weiß niemand.
Organ-Chip-Technologie
Was es verspricht:
Den ganz großen Wurf: Die Abschaffung von Tierversuchen und die individuelle Anpassung von Medikamenten. Tierversuche sind nicht nur grausam und wenig ethisch, sie sind auch (fast immer) unsinnig, denn was an Ratten gut funktioniert, bringt nur den Beweis…, dass es an Ratten gut funktioniert. Die Fehlerquote nach Medikamententests an Tieren ist sehr hoch. Von zehn Medikamenten, die sich im Tierversuch für den Menschen empfehlen, werden neun letzt lich doch verworfen, weil Menschen anders reagieren als erwartet.
Organ-Chips sollen Tierversuche zukünftig ersetzen. Denn diese Miniatur-Nachbauten des menschlichen Organismus liefern viel aussagekräftigere Ergebnisse. Dabei haben Organchips nichts mit Computerchips zu tun, nichts mit Elektrik und sollen doch Krankheiten simulieren können – und die Reaktion des Körpers auf eine bestimmte Behandlung. Arzneimitteltests werden so im Idealfall nicht nur schneller, genauer und billiger, sondern können auch personalisiert werden.
Wie weit die Forschung wirklich ist:
Mittlerweile geht es fast nur noch um vermeintliche Luxusprobleme: Wie findet man die richtige Flüssigkeit, den korrekten Pump-Rhythmus und Druck, um Körper und Blutdurchfluss so zu simulieren, dass die gezüchteten Organzellen möglichst lange überleben? Die Herstellung der Chips im 3D-Drucker ist kein Problem mehr. Sie bestehen aus einem flexiblen, lichtdurchlässigen Polymer, auf dem lebende Zellen wachsen, die aus einem bestimmten Organ extrahiert wurden und miteinander interagieren wie im Körper.
Die Größe der Chips variiert von kleinen AA-Batterien bin hin zur Zigarettenschachtelgröße – wobei in letzterem bereits mehrere Organe wachsen, um das Zusammenspiel der Organe im Körper zu simulieren. Diese Organ-Modelle sind nicht nur verbunden durch kleine Kanäle, durch die eine Flüssigkeit mit Nährstoffen gepumpt wird, das Blut, sondern verhalten sich exakt wie im menschlichen Körper: Die Nierenzellen auf dem Polymerchip produzieren also echten Urin. Im Moment wird an Chips gearbeitet, die zehn verschiedene Organe simulieren – nicht nur für den Einsatz im medizinischen Bereich, sondern auch für Kosmetik- und Chemieunternehmen. Und längst gedeihen auf Chips auch Gehirnzellen.
Bionisches Hören
Was es verspricht:
Entspannung und Fokussierung. Die Welt wird immer lauter. Wissenschaftler sagen, dass sich die Lautstärke der vom Menschen erzeugten Hintergrundgeräusche alle drei Jahrzehnte verdoppelt. Neue Technologien zielen daher nicht nur auf die Menschen mit Hörverlust, sondern sie definieren den Markt neu: Zielgruppe sind alle, die selektiv hören wollen – etwa einen bestimmten Klang in einem lauten Raum. Oder Fluglärm stumm schalten.
Forscher der Princeton University haben schon vor Jahren ein Ohr entwickelt, dass Radiowellen hören kann. Bisher hat aber niemand das Ohr transplantiert bekommen. In Zukunft sollen Hörgeräte, mit KI kombiniert, der multifunktionalen Gesundheitsüberwachung dienen. Die Geräte, das ist der Plan, werden dann wie Smartphones sein – zwar verrichten sie noch ihren Hauptjob, sind aber längst multimediale Entertainment- und Arbeitsgeräte.
Wie weit die Forschung wirklich ist:
Die Verbindung von Technik und Gewebe ist schwierig. Weil man Hearables aber nur ins Ohr setzt, ohne dass die Geräte verwachsen müssen, ist die Technik leichter zu beherrschen – zumal sie eng mit Hörgeräten verwandt ist: Geräuschfilterung, kabellose Übertragung und Anrufannahme gibt es dort in Spitzenprodukten schon länger. So verstärken neue Hearables nicht nur das Gehör, sondern verbinden sich über Bluetooth mit Smartphones, Fernsehern oder gar dem Smart Home und filtern Umgebungsgeräusche heraus, etwa weinende Kleinkinder, die im gleichen Zugabteil sitzen.
Die etwa von Bose vor nicht allzu langer Zeit auf den Markt gebrachten "Sleepbuds", die schlaffördernd wirken sollen, indem sie mit beruhigenden Geräuschen unerwünschte Lärmquellen unterdrücken, sind nur der Anfang. Mittlerweile gibt es Hearables, die Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, einander verstehen lassen. Und die Bionik betrifft nicht nur das Ohr: Forscher der Universität Lausanne haben Kontaktlinsen entwickelt, die durch die Nutzung winziger Aluminiumspiegel einen dreifachen Telezoom besitzen.
KI-Hauptpflege
Was es verspricht:
Perfekte Haut. Alleine in Deutschland werden jährlich 13 Milliarden Euro für Hautpflegeprodukte ausgegeben – die natürlich nicht individuell abgestimmt sind. Wie auch? Die meisten Menschen kaufen daher Produkte, von denen sie denken, dass sie passen, nicht solche, die wirklich passen. Einschätzungen sind bisher sehr grob, feuchte Haut, fettige Haut, trockene Haut. Und das soll sich ändern.
Ein wichtiges Thema ist dabei das Verständnis des Einflusses unserer Lebensbedingungen auf unseren Körper – speziell auf Hautpflege und Hautalterung. Mithilfe unzähliger Daten soll eine künstliche Intelligenz in Zukunft nicht nur Zielgruppen besser erfassen, sondern sämtliche Parameter, die auf die Haut wirken, wie etwa Luftqualität, Lebensmittel und Stress. Und dann eine Produktempfehlung abgeben, die perfekt auf die Haut der Kunden abgestimmt ist – und zwar Tage im Voraus.
Wie weit die Forschung wirklich ist:
Finanziert über Kickstarter soll irgendwann in diesem Jahr die Atolla-App erscheinen, die anhand eines Selfies (und eines Fragebogens), Produkte vorschlägt, die auf die individuelle Haut abgestimmt sind. Funktionieren soll das mit einem Algorithmus, der am Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelt wurde.
Auf Faktoren basierend wie Sonne, Alter, Hautbeschaffenheit und Verträglichkeit soll die App unter Einbeziehung von Umwelt- und Lifestyledaten personalisierte Produktvorschläge liefern – bis hin zur Wirkstoffkombination. Der Plan ist, dass die App den Fortschritt der Hautpflege überwacht und gegebenenfalls Anpassungen vornehmen kann.
Pflanzliches Fleisch
Was es verspricht:
Die Rettung der Welt. Die Erzeugung von einem Kilo Rindfleisch benötigt, je nach Haltung, bis zu 49 Quadratmeter Nutzfläche. Alleine in Deutschland werden sechzig Prozent des produzierten Getreides als Tierfutter eingesetzt – und das reicht nicht: Im Jahr 2016 lagen die Einfuhren für Tierfutter bei 3,7 Millionen Tonnen Sojabohnen und 2,8 Millionen Tonnen Sojaschrot.
Den weitaus größten Teil der Lieferungen beziehen die deutschen Importeure aus Südamerika. Angebaut wird Soja in Gebieten, in denen früher Regenwald stand. Und was das Wasser angeht: Im globalen Durchschnitt werden pro Kilo Rindfleisch rund 15.400 Liter Wasser verbraucht. Muss man alles nicht gerne hören, stimmt aber.
Wie weit die Forschung wirklich ist:
Sehr weit. Waren vegetarische Pattys bisher eher nicht dafür bekannt, auch nach Fleisch zu schmecken, hat sich das mit dem auf Erbsen-Grundlage hergestellten Fleischersatz von beyond meat geändert. Die Amerikaner haben einen regelrechten Hype ausgelöst – weil sie das tun, was Amerikaner eben tun: Lässigkeit und Coolness in ihren Produkten mitdenken.
Dass die pflanzlichen Proteine auf dem Grill knistern und beim Kochen die Farbe verändern, hilft auch. Und ist doch nur ein Zwischenschritt: In den Niederlanden und den USA wird bereits aus Muskelzellen Fleisch im Labor gezüchtet. Das Verfahren ist noch sehr teuer, wird aber immer billiger. Echtes Vieh kommt dabei nicht mehr vor. Und dennoch investiert Tyson Foods in das Verfahren, der zweitgrößte Schlachtkonzern der Welt.