In der Preview und Beta kam "Marvel's Avengers" bei mir nicht gut weg, aber das fertige Spiel macht unerwartet viel Laune. Trotzdem hat der neue Loot-Brawler einige Defizite – schade, dass das bei neuen Releases mittlerweile dazugehört. Meine Eindrücke zum Release des neuen Koop-Actionspiels.
- Wer hätte das erwartet? Eine gute Kampagne!
- Ist "Marvel's Avengers" wirklich ein "Cash Grab"?
- Wo ist was?
- Rhythm & Flow: Da geht mehr, aber das wird schon noch!
- Fazit
Ein Game wie "Marvel's Avengers" zu testen ist eine undankbare Aufgabe. Denn Crystal Dynamics neues Superhelden-Spiel ist ein sogenanntes Service-Game: Es lässt sich nicht im klassischen Sinne durchspielen – das Endlosspiel will auch nach der Kampagne laufend neue Herausforderungen bieten, mit neuen Marvel-Figuren, neuer Ausrüstung und regelmäßigen Ingame-Events. Durch ständige Updates ist es in wenigen Wochen wahrscheinlich ein völlig anderes Spiel als heute.
Das ist mittlerweile gängige Praxis, beim Release einst mittelmäßige Titel wie "Destiny", "The Division" und sogar "Star Wars Battlefront 2" wurden laufend verbessert. Die Spiele konnten mit der Zeit so eine euphorische Stammspielerschaft für sich gewinnen. Ein Test zum Release sagt im Grunde also wenig aus – gäbe es nicht Fälle wie "Anthem", mit dem "Marvel's Avengers" zuletzt oft verglichen wurde. Aber ich greife voraus, sprechen wir zunächst über all das, was Crystal Dynamics richtig gut gemacht hat!
Wer hätte das erwartet? Eine gute Kampagne!
In der Beta erhielt ich nur einen kurzen Eindruck der Singleplayer-Kampagne, in deren Mittelpunkt Kamala Khan alias Ms. Marvel steht. Der Ausschnitt wirkte in Kombination mit dem Prolog von "Marvel's Avengers" wie ein veraltetes Tutorial voller Quick-Time-Events und linearer Hau-drauf-Action. Im fertigen Spiel gefällt mir die Story um die junge Kamala aber überraschend gut – Sandra Saad, Kamalas Sprecherin im englischen Original, schultert die Story mit der tapsigen, aber sympathischen Art der Heldin fast im Alleingang. Auch der übrige Cast ist hervorragend – dank toller Sprecher wie Troy Baker (Bruce Banner) und Laura Bailey (Black Widow), beide bekannt aus "The Last of Us Part 2". Die deutsche Synchro wirkt auf mich dagegen hölzern.

Ist "Marvel's Avengers" wirklich ein "Cash Grab"?
Die vor Release befürchtete "Übermonetarisierung" fällt zu Anfang nicht ins Gewicht. Klar, es gibt zunächst an allen Ecken und Enden viel zu entdecken, die geplanten kostenpflichtigen Battle-Pässe für spätere Helden sind noch weit weg. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie sich das Endgame anfühlt, wenn alles in "Marvel's Avengers" abgegrast ist. Bei Online-Spielen lässt sich das vor Release nicht testen. Allein die Tatsache, dass sich jeder der Helden völlig anders spielt und vielseitig aufleveln lässt, bietet viel Wiederspielwert und Langzeitmotivation. Vielleicht komme ich so auch länger ohne kostenpflichtige Zusatzinhalte aus.
Wo ist was?
Ansonsten wirkt "Marvel's Avengers" auf mich generell unübersichtlich. Das fängt bei der Menüführung an: Wo sehe ich die genaue Anzahl meiner Erfahrungspunkte? Wie komme ich im Multiplayer zu den Händlern in den Stützpunkten? Die Verwirrung setzt sich im Gameplay fort: Gerade im Koop-Spiel geht die Übersicht schnell verloren, wenn mehrere Helden in den halboffenen Welten gleichzeitig ihre explosiven Spezialfähigkeiten abfeuern und damit diverse Gegner kreuz und quer übers Spielfeld werfen. Zudem sind die Maps meist entweder zu weitläufig oder zu eng angelegt – das Leveldesign will jede Welt sowohl für Einzelkämpfer als auch für Viererteams spielbar machen.
Gleich zu Beginn überfordert mich "Marvel's Avengers" mit haufenweise Begriffen und umständlich benannten Werten, die ich deswegen erstmal ignoriere: Perks, die mir Ausrüstungsteile und Fähigkeiten versprechen, sind zunächst schwer einzuordnen, und gleich zu Anfang gibt es neun verschiedene Crafting-Ressourcen. Überall blinkt irgendetwas, Nachrichten ploppen auf. Das ist für Loot-Grind-Spiele dieser Art normal, aber eine wohl dosierte Einführung hätte dem Spiel gutgetan.

Rhythm & Flow: Da geht mehr, aber das wird schon noch!
Der Übergang von der Kampagne zum offenen Koop-Teil von "Marvel's Avengers" ist fließend. Nach der Hauptstory gibt es für jeden Helden eine eigene Mini-Kampagne, die sich auch solo spielen lässt. Dazu kommen weitere Missionsreihen für bestimmte Fraktionen, Aufträge und Herausforderungen, der Multiplayer ist im Menü getrennt wählbar. Das Gameplay fühlt sich stets größtenteils identisch an. Allerdings wirken die Koop-Missionen eigenartig flach, ihr Rhythmus ist monoton. Wo Spiele wie "The Division 2" mit einem gut getakteten Flow zwischen Erkundung, Kämpfen und Bossen wechseln, muss ich in "Marvel's Avengers" bisher stumpf Welle um Welle an Gegnern bezwingen – und dann ist die Mission beendet.
Auch technisch hatte ich auf dem PC trotz empfohlener Systemvoraussetzungen Probleme. Aber es ist wie eingangs beschrieben: Bei Service-Games sind Mängel zum Release völlig normal. Im Laufe der nächsten Monate werden die Entwickler "Marvel's Avengers" hoffentlich anhand von Daten und Spieler-Feedback ausbauen, umstrukturieren und erweitern. Das Potenzial ist da. Ich vermute, dass mir das Game dann Screentime aus dem Kreuz leiert, von der ich bisher nicht wusste, dass sie noch in mir steckt – denn trotz aller Skepsis bringt mir "Marvel's Avengers" bisher unanständig viel Spaß.
Fazit: Wo bekommt der die Jacken her?

Crystal Dynamics muss nun zeigen, dass es mit "Marvel's Avengers" vorangeht. Endgame-Nachschub ist erfahrungsgemäß das größte Problem von Service-Games. Das eingangs genannte "Anthem" scheiterte nicht an Gameplay oder Technik, sondern an fehlenden Inhalten und schwachen Mechaniken für Vielspieler. Als Marvel-Fan hoffe ich inständig, dass die Entwickler für "Marvel's Avengers" die Erfolgsformel finden – und ich irgendwann erfahre, woher Bruce Banner ständig die Shield-Jacken bekommt, wenn er sich vom Hulk zurückverwandelt.