Für sein nächstes PS4-Exklusivspiel holt Sony in "Marvel's Spider-Man" den sympathischen Netzschwinger zurück auf den Bildschirm. Ob das Open-World-Adventure meinen Ansprüchen als Comic-Fan gerecht wird und warum ich mir noch mehr Mut zum Anderssein gewünscht hätte, liest Du hier.
- Story wie im Comic: Schnell, actiongeladen, durcheinander
- Gameplay: Mix aus "Infamous" & "Tony Hawk's Pro Skater"
- Grafik: Ein lebendiges Manhattan mit ausreichend Pfützen
- Fazit: Etwas mehr Mut hätte "Marvel's Spider-Man" gutgetan
Als Teenager habe ich alles an Marvel-Comics verschlungen, was mir in die Finger kam. Wie vielen jungen Lesern bot Spider-Man mir dabei einen leichten Einstieg in die umfassende Welt des Marvel-Universums. In den Comics geht es um einen Jungen, der als Nerd und Außenseiter gilt, im Geheimen aber ein Doppelleben als schlagfertiger Superheld führt. Später heiratet er sogar das Mädchen seiner Träume, dem alle coolen Typen von der Schule hinterhergucken.
Als Schüler konnte ich mich bestens mit Peter Parker identifizieren: Wer vor über zwanzig Jahren über nichts anderes als Comics und Videospiele sprach, galt nämlich mindestens ebenso als Außenseiter wie die Comic-Figur aus dem Hause Marvel. Wegen dieser persönlichen Verbindung zu dem Superhelden freute ich mich auch riesig über die Ankündigung eines neuen "Spider-Man"-Games für die PS4. Andere Gamer reagierten sicherlich eher mit einem leicht genervten "Schon wieder?"
Fun Fact: Es gibt bereits über 50 Spider-Man-Games
Denn natürlich gibt es schon über 50 Videospiele mit der freundlichen Spinne von nebenan. Mein persönlicher Erstkontakt mit Spidey in einem Game war zum Beispiel das exquisit betitelte Beat'em'Up "The Amazing Spider-Man & Captain America in Doctor Doom's Revenge" auf dem C64 aus dem Jahr 1989. Danach gab es noch viele Spiele mit der Spinne in der Hauptrolle, wie "The Amazing Spider-Man 2", das 2014 noch von Activision veröffentlicht wurde, bevor die Lizenz des Publishers auslief.
Nun bringt Sony mit "Marvel's Spider-Man" ein PS4-Exklusivspiel heraus und erwischt damit einen günstigen Zeitpunkt: Superhelden sind groß in Mode und die Partnerschaft des japanischen Konzerns mit dem von Disney aufgekauften Comic-Giganten lässt sich als harmonisch bezeichnen. Mit dem Kinohit "Spider-Man: Homecoming", dessen Sequel oder den "Avengers"-Filmen hat das neue Game aber rein gar nichts zu tun.
Story wie im Comic: Schnell, actiongeladen, durcheinander
Stattdessen erleben wir im neuen Spider-Man-Spiel ein völlig neues Abenteuer von Peter Parker alias Spider-Man. Entwickler Insomniac Games verschont uns darin zum Glück mit der Origin-Story des Helden – stattdessen erleben wir eine comic-typische Handlung, in der die Festnahme des Gangsterbosses Kingpin zu einem Machtvakuum führt, was wiederum zu jeder Menge Durcheinander und Stress mit verschiedenen Superschurken führt.
Die Story von "Marvel's Spider-Man" erinnert schnell an das gewohnte Durcheinander der Verstrickungen eines typischen Marvel-Comics. An sich ist das eine unterhaltsame Sache – was fehlt, ist aber etwas mehr erzählerische Tiefe, die ich als verwöhnter PS4-Fan aus Sony-Exklusivspielen mittlerweile gewöhnt bin. Die Geschichten, die Games wie "God of War" und "Horizon Zero Dawn" erzählen, haben alle eine gewisse Größe, die ich in "Marvel's Spider-Man" zwischen der geballten Popcornkino-Action nicht wiederfinde.
Gameplay: Mix aus "Infamous" & "Tony Hawk's Pro Skater"
"Marvel's Spider-Man" ist die evolutionäre Weiterentwicklung von Spielen wie Treyarchs "Spider-Man 2" (2004), das den Spinnenheld erstmals durch eine dreidimensionale Open-World schwingen ließ. Das wichtigste Gameplay-Element, die Fortbewegung durch Manhattan in luftigen Höhen, funktioniert dabei blendend. Nach wenigen Minuten habe ich mich nicht nur an die schwingenden Bewegungsabläufe gewöhnt, sie bringen auch enorm viel Spaß.
Insomniac hat die Mechanik des Klassikers aus PS2-Zeiten stark aufgebohrt und bietet das, was zum Beispiel Neversoft, Entwickler von "Spider-Man" (2000, PSX), damals verpasste: Im Grunde erinnert das Gameplay nämlich an den Neversoft-Klassiker "Tony Hawk's Pro Skater". Auch hier gab es in der Spielwelt viele Aufgaben zu erledigen, der eigentliche Spaß lag aber beim Tricksen während der Fortbewegung.
Ebenso verhält es sich in "Marvel's Spider-Man": Es ist einfach enorm befriedigend, mit dem Helden über Dächer und durch Hochhausschluchten zu rauschen. Wandläufe, Absprünge und Schwünge lassen sich flüssig kombinieren und in der Luft können per Analogstick und Tastendruck sogar Tricks vollführt werden, die zusätzliche Erfahrungspunkte gewähren – ein Heidenspaß! Dieses Element hätten die Entwickler sogar gern noch mit weiteren Tastenkombinationen ausbauen dürfen, um dem Spiel damit eine zusätzliche Ebene zu verleihen.
Solide Open-World-Mechanik nach Sony-Rezept
Ansonsten wartet im frei begehbaren Manhattan recht herkömmliche Open-World-Kost, wenn auch gut verpackt. Das Gameplay variiert zwischen Action-Szenen und Mini-Games, in denen Peter zum Beispiel im Labor Schaltkreise kombinieren oder chemische Verbindungen entschlüsseln muss. Dazu kommen unzählige Sammelobjekte, Geschicklichkeits-Quests und Bosskämpfe, die mich vor allem an Spiele wie die "Infamous"-Reihe erinnern.
Ab und zu müssen Story-Missionen auch in der Haut anderer Figuren erledigt werden, wobei diese Aufgaben sich hauptsächlich auf Schleichen und Ablenken von Wachen beschränken. Mitunter haben die Entwickler aber immer wieder gute Ideen untergebracht – zum Beispiel eine Mission, in der man als Peters Freundin Mary Jane Wachposten ausspäht, während Spider-Man auf Tastendruck einzelne Gegner von oben verschwinden lässt.
Der Stealth-Aspekt kommt in "Marvel's Spider-Man" auch sonst nicht zu kurz: Immer wieder müssen Unterschlüpfe der verschiedenen Feindfraktionen geräumt werden, was sich versteckt an der Decke am effektivsten erledigen lässt. Von hier lassen sich die Feinde bequem einspinnen und so nach und nach dezimieren. Diese Abschnitte des Spiels erinnern mich stark an die "Batman: Arkham"-Reihe – auch dank der zahlreichen Gadgets, die Spider-Man im Kampf einsetzen kann.
"Marvel's Spider-Man": Eine Prise "Arkham" ist auch mit dabei
Die Ausrüstung lässt sich, genau wie die vielen Kostüme oder spezielle Anzugkräfte, nach und nach freischalten, wodurch auch immer wieder neue Nahkampf-Moves erlernt werden. Irgendwann verfügt man über ein Schlag-, Tritt- und Sprung-Arsenal, das dem eines ausgewachsenen Beat'em Ups in nichts nachsteht. Das Kampfsystem ist dazu, trotz hoher Geschwindigkeit, leicht zu lernen und bietet zahlreiche Variationsmöglichkeiten.
In Story-Missionen, die teilweise in atemberaubende Actionszenen eingebettet sind, kommen auch Quick-Time-Events nicht zu kurz – ein Gameplay-Element, das ich persönlich nicht besonders leiden kann. Vor allem, weil auch in "Marvel's Spider-Man" in Einzelfällen mal wieder nicht auf Anhieb klar wird, wann, wie oft und wie genau man die angezeigten Tasten betätigen muss, um nicht abzuschmieren.
Update vom 6. September: Mit dem Day-One-Patch hat Insomniac Games die Möglichkeit ins Spiel integriert, die Quick-Time-Events in den Optionen in verschiedenen Stufen abzuschalten.
Grafik: Ein lebendiges Manhattan mit ausreichend Pfützen
Die technische Qualität von "Marvel's Spider-Man" ist, wie bei PS4-Exklusivspielen gewohnt, hoch – auch wenn mich "Spider-Man" nicht von Anfang an so weggeblasen hat wie etwa "God of War" und ein Performance-Mode mit 60 FPS völlig fehlt. Allerdings ist es wahrscheinlich ungleich schwerer, eine Stadt aus Beton und Glas in atemberaubender Schönheit erstrahlen zu lassen als fantastische Zauberwälder und Naturstillleben, wie in anderen Open-World-Spielen.
Beeindrucken kann das Manhattan, das Insomniac in diesem Game gebaut hat, dagegen durch seinen Detailreichtum, der je nach Perspektive skaliert: Am Boden, in den Straßen und Seitengassen, flitzen Ratten und Eichhörnchen umher, Menschen bevölkern die Stadt und am Himmel sind neben Tauben auch Hubschrauber und, in unerreichbaren Höhen, Flugzeuge unterwegs.
Klar, geht man ganz nahe heran, sehen die Ratten eher grob detailliert aus und auch die zahlreichen Passanten sind längst nicht so gut und vielfältig gestaltet wie etwa in "GTA 5". Aber wenn ich mich als Spider-Man mit hohem Tempo über die Straßen und Dächer schwinge, fühlt sich New York City dennoch pulsierend und lebendig an.
Toller Soundtrack, aber keine englische Synchronfassung
Zur Atmosphäre trägt auch der akustische Hintergrund bei, denn immer, wenn ich mich in die Lüfte aufmache, setzt direkt ein heroischer Soundtrack ein. Das passt, denn Spider-Man ist in diesem New York ein echter Star: Menschen reagieren, je nach Stimmungslage, auf den Superhelden, wollen ein Foto oder bedanken sich für die Rettung eines Verwandten.
Was mich persönlich jedoch sehr stört: Zumindest in unserer Test-Version konnte die Sprachausgabe nicht im Spiel auf das englische Original umgeschaltet werden. Das nagt ein wenig an der New-York-City-Atmosphäre, zumal einige Passanten vereinzelt trotzdem englische Kommentare abgeben. Wer die Originalfassung spielen will, muss die gesamte Konsole auf Englisch umstellen und damit auch alle Bildschirmtexte des Systems. Eine Nachrüstung im Audio-Menü wäre durchaus wünschenswert.
Könnte "Marvel's Spider-Man" auch ohne Lizenz überzeugen?
Als Spider-Man-Fan gibt mir das neue PS4-Spiel an so gut wie jeder Straßenecke von Manhattan ein Detail aus den Comics zu entdecken. Hier merke ich die Verbundenheit der Entwickler, die angeblich selbst große Marvel-Fans sind, mit dem Thema: Es ist einfach toll, sich völlig frei in die Straßenschluchten von Mahattan stürzen zu können und dabei noch ein paar böse Jungs zu vermöbeln, während Spideys Erzfeind J. Jonah Jameson in seinem Podcast stänkert und Peter seiner Tante May am Telefon verspricht, zum Essen vorbeizusehen.
Aber könnte "Marvel's Spider-Man" auch ohne die Strahlkraft des Superhelden als Spiel überzeugen? Auf jeden Fall handelt es sich um ein hervorragendes Open-World-Game mit einem guten Kampfsystem. Ausreichend Nebenquests, Sammelobjekte, Ausrüstung und Mods geben dem Spaß an der Fortbewegung einen Sinn. Und auch die Minigames sind eine gelungene Abwechslung. Was "Spider-Man" für PS4 aber durchaus gutgetan hätte, wären ein paar wirklich neue Ideen.
Fazit: Etwas mehr Mut hätte "Marvel's Spider-Man" gutgetan
In Sachen Gameplay ist "Spider-Man" letztlich eine weitere High-End-Version des PS4-Exklusivspiel-Rezepts: ein Open-World-Adventure, mit vielen Punkten auf der Map, die erkundet werden wollen und einer Hauptstory, die sich wie ein roter Faden von einer interaktiver Cutscene zur nächsten schwingt. Sony-Blockbuster wie "Horizon: Zero Dawn" oder "God of War" konnten diese Formel dadurch würzen, dass sie ihren Hauptcharakteren erzählerische Tiefe verliehen, indem diese sich während der Handlung selbst neu entdeckten. Aber was, wenn man den Helden schon vor dem Spielstart in- und auswendig kennt?
Seit 1962 ist Peter Parker als Spider-Man in den Marvel-Comics schon jeder Art von privater oder gesellschaftlicher Krise entgegengetreten. Ohne die DNA des Superhelden völlig umzukrempeln ist es also schwer, hier Tragweite zu entwickeln. Ich persönlich hätte mir erzählerisch etwas mehr Mut gewünscht. Insomniac Games hat sich lieber dafür entschieden, den Fans den Spider-Man zu bieten, den sie kennen und lieben. Das allerdings haben die Entwickler hervorragend umgesetzt.
TURN-ON-Wertung: 4,3/5
Das gefiel mir gut | Das gefiel mir weniger gut |
Echtes Marvel-Comics-Gefühl | Sprachausgabe nur auf Deutsch |
Trick-Elemente beim Schwingen | Story mit wenig Tragweite |
Manhattan wirkt sehr lebendig | Typisches Open-World-Gameplay |