In "Marvel's Spider-Man" sollen sich Superhelden-Fans endlich frei wie nie zuvor durch Peter Parkers New York bewegen können. Beim Anspieltermin zum PS4-Exklusivspiel inklusive Interview mit den Machern habe ich mein virtuelles Leben vorab schon einmal an den seidenen Spinnfaden gehängt – und ein schwungvolles Abenteuer mit Humor und ganz viel Herz kennengelernt.
- Spielstart: Ohne Origin-Story direkt ins Spiel
- Story: Eigene Geschichte statt Comicfilm-Zweitverwertung
- Gameplay: Beschwingt durch New York City
- Kampfsystem: Manhattans Unterwelt bezieht Prügel von Netzwerk-Profi
- Open-World-Gefühl: Viel zu tun für Comicfans mit Freiheitsdrang
- Vorschau-Fazit: Hat Kratos eigentlich Angst vor Spinnen?
Es wäre fast untertrieben, von hohen Erwartungen zum Release von "Marvel's Spider-Man" zu sprechen: Seit Insomniac Games das Projekt 2016 angekündigt hat, sind nicht nur Marvel-Fans heiß auf das Open-World-Abenteuer. Das muss jetzt einem der bekanntesten und beliebtesten Superhelden aller Zeiten gerecht werden, sich mit Games wie der gefeierten "Arkham"-Reihe um DC-Düsterkopf Batman messen lassen und alle die Lügen strafen, die Lizenz-Games sowieso für eine ganz schlechte Idee halten.
Beim Anspiel-Event von "Marvel's Spider-Man" in Berlin zeigt sich allerdings schnell: Die Entwickler könnten den richtigen Weg gefunden haben, um allen Hindernissen so leichtfüßig wie ihr maskierter Held aus dem Weg zu tänzeln.
Spielstart: Ohne Origin-Story direkt ins Spiel
Schon mit der Eröffnungsszene sammelt "Marvel's Spider-Man" den ersten Pluspunkt bei mir, indem es unmissverständlich klarstellt, dass es mir die leidige Origin-Story um Spinnenbiss und Onkel-Verlust rundheraus erspart. Stattdessen wirft mich das Game ohne Umschweife ins Geschehen – das heißt: ins Leben des 23-jährigen Peter Parker, der seinen Job als mittlerweile schon ziemlich routinierter Verbrechensbekämpfer mit Superkräften und seinen anderen Job als Nachwuchswissenschaftler in Einklang bringen muss.
Story: Eigene Geschichte statt Comicfilm-Zweitverwertung
Von Anfang an ist somit auch klar, dass "Marvel's Spider-Man" eine ganz eigene Geschichte erzählt, die nichts mit den Comics und besonders nichts mit dem Marvel-Kinouniversum zu tun hat. "Wir wussten von Anfang an, dass wir keinen Film nacherzählen wollten. Diese Geschichte hast Du ja schon erlebt", begründet Creative Director Bryan Intihar von Insomniac Games diese Entscheidung später im Interview mit TURN ON. "Also dachten wir: Warum geben wir den Leuten nicht einen Charakter, den sie kennen und lieben, und überraschen sie?"
Von diesen Überraschungen hält "Marvel's Spider-Man" schon in den ersten Spielstunden so einige bereit. Ohne spoilern zu wollen: Selbst Gamer, die die Karriere des Spinnen-Helden in den vergangenen Jahren nur ganz am Rande verfolgt haben, dürften den ein oder anderen Aha-Moment erleben – vor allem, was populäre andere Helden und Schurken aus dem "Spider-Man"-Universum angeht. Dabei hat es "Marvel's Spider-Man" nicht nötig, besonders spektakuläre Enthüllungen mit großem Trara zu servieren. Sie ergeben sich einfach aus dem leichtfüßigen Erzählfluss.
Der Normalo mit den Spinnensinnen
Die Story nimmt ihren Anfang in Peter Parkers New Yorker Apartment, wo der Held gerade auf dem Sprung zum nächsten Einsatz ist und sich mit ganz unheldenhaften Problemen herumschlagen muss. Eine Rechnung flattert durch den Briefkasten, der Spider-Suit müffelt vom letzten Einsatz und Peters Arbeitgeber bräuchte ihn eigentlich dringend woanders. Doch Spider-Man wäre nicht Spider-Man, wenn seine Priorität nicht auf Nervenkitzel liegen würde. Zu lautem College-Punkrock stürzt er sich aus dem Fenster, feuert einen Spinnfaden an die nächste Hauswand – und ab da gibt mir das Spiel die Kontrolle.
Gameplay: Beschwingt durch New York City
Die Erleichterung ist groß: Das Umherschwingen im virtuellen New York ist tatsächlich so flüssig, wie es in bisherigen Trailern und Gameplay-Videos aussah. Mit wenigen Tasten lenke ich Peter Parker sicher durch Häuserschluchten, sprinte an senkrechten Wänden entlang, katapultiere mich durch Engpässe, nutze die Schwerkraft für noch mehr Schwung und pausiere auf Wunsch kurz mal an der Spitze eines Wolkenkratzers, um den atemberaubenden Blick über das virtuelle Manhattan zu genießen.
Unterwegs als netter Spider-Star von nebenan
Lande ich ganz unten auf der Straße, bleiben die Passanten stehen, schießen Fotos von dem Superhelden und rufen ihm aufmunternde Sätze zu – das macht die Stadt lebendig, selbst wenn ich das Gewusel am Boden die meiste Zeit von oben zu sehen kriege. Der Start zurück auf die Hausdächer ist ebenfalls ein Kinderspiel: Ein Sprung, ein Netzschuss an eine Laterne und ich bin wieder in der Luft und auf dem Weg zum aktuellen Ziel, das mit gut sichtbaren Markern angezeigt wird.
Trotzdem gibt es natürlich Dinge, die PS4-Fans bekannt vorkommen dürften. Dazu zählen optische Details wie die Art der Karten-Markierungen und die Skill-Bäume, aber auch Gameplay-Mechaniken wie gelegentliche (aber eher seltene) Quicktime-Events. Laut Bryan Intihar entstammt speziell die Verwendung dieser Elemente zwischen Spiel und Cutscene übrigens dem Wunsch, ein "cinematisches Abenteuer" zu erzählen – ein Anspruch, der sich wiederum gut auf andere PS4-Exclusives übertragen lässt.
Gleich in der ersten Mission von" Marvel's Spider-Man" soll ich – zusammen mit der Polizei – den stadtbekannten Superschurken Kingpin dingfest machen. Der Koloss wirft mir natürlich eine ganze Horde Schergen entgegen, was vor allem reichlich Gelegenheit bedeutet, um Spider-Mans umfangreiches Arsenal an Nahkampffertigkeiten kennenzulernen.
Kampfsystem: Manhattans Unterwelt bezieht Prügel von Netzwerk-Profi
Kämpfe gehen dabei ähnlich flüssig von der Hand wie die schwingende Durchquerung New Yorks. Spider-Man verteilt unter den meist gleich zu viert oder fünft angreifenden Gegnern reichlich Faustschläge und Fußtritte, die zu Kombos zusammengefügt werden. Zwischendurch spinnt er einzelne Feinde ein, ahnt Schläge mit seinen Spinnensinnen voraus und taucht rechtzeitig ab oder weicht mal eben kurz an die Wand aus – um dann umso kraftvoller zuschlagen zu können.
Die Gefechte sind schnell, was vor allem am hohen Tempo des hin und her hechtenden Helden liegt. Dank der Fülle taktischer Möglichkeiten geraten sie zu Beginn auch fast ein bisschen überfordernd: Während ich Gegner am Boden und in der Luft verprügle, muss ich immer wieder Kugeln ausweichen und mich zurückziehen, sobald zu viele Schergen zugleich auf mich einprügeln – allzu widerstandsfähig ist die wendige Spinne nämlich nicht.
Schon in der ersten Mission meistere ich manche Kämpfe deshalb trotz normalem Schwierigkeitsgrad erst beim dritten oder vierten Versuch – "Marvel's Spider-Man" hat in dieser Hinsicht eine überraschend steile Lernkurve. Mit der Zeit bekomme ich aber ein Gespür für den Rhythmus eines Kampfes und fange an, auch mehr und mehr die Umgebung taktisch einzubeziehen.
Für Spider-Man ist alles eine Waffe
Das kreative Kämpfen mit Gegenständen aus der unmittelbaren Spielumgebung lag Insomniac Games dabei offensichtlich besonders am Herzen. Schließlich soll Spider-Man als "ein Meister der Improvisation" gezeigt werden, wie Bryan Intihar erklärt. Mit einem gezielten Netzschuss kann ich deshalb Mülleimer, Feuerlöscher oder sogar Autotüren spontan zweckentfremden und auf Gegner hämmern, Gerüste zum Einsturz bringen und Stromkästen für eine Gratisrunde Elektroschocks durch die Gegend schwingen. Situationen, in denen solche Kunststückchen gelingen, sind immer besonders befriedigend.

Gelegenheiten für Kloppereien mit Bösewichtern bietet "Marvel's Spider-Man" derweil reichlich: Wenn sich nach der einführenden Mission die Open-World in Gänze auftut, quillt die Karte bald über vor Symbolen, die auf interessante Orte, Sammelobjekte oder gerade stattfindende Verbrechen hinweisen. Überall kann ich spontan vorbeischauen, Ressourcen für neue Gadgets und Anzüge sammeln oder ein paar Schurken vermöbeln.
Open-World-Gefühl: Viel zu tun für Comicfans mit Freiheitsdrang
Ich kann viel tun, muss aber nichts: Als vorrangiger Eindruck aus den ersten Spielstunden bleibt hängen, dass das Game mir viel Freiheit dabei lässt, welche Aktivitäten ich wann angehen möchte. Trotzdem erscheinen auch Nebenaufgaben und Sammelobjekte wie aus einem Guss, hängen immer irgendwie mit der Hauptstory oder dem Marvel-Kosmos zusammen und werden in kleinen Lore-Schnipseln launig erklärt. Dass Intihar und sein Team Comic-Nerds vor dem Herrn sind, ist "Marvel's Spider-Man" in seinen vielen Details deutlich anzumerken.
Abgerundet wird ein durchweg positiver erster Gameplay-Eindruck vom angenehm humorvollen Unterton, der ständig im wahrsten Sinne des Wortes mitschwingt. Vor allem Spider-Mans Wortgeplänkel mit seiner Auftraggeberin Yuri Watanabe sind ein Highlight, auch in Kämpfen ist der vorlaute Held nie um einen Spruch verlegen. Gelungen sind die zahlreichen Anspielungen, die auf Comics, Filme oder die Popkultur im Allgemeinen abzielen – etwa, wenn der Held wiederholt den Bindestrich in seinem Namen betont oder den eingesponnenen, kopfüber im Treppenhaus baumelnden Superschurken mit den Worten "Sollten wir uns küssen?" verabschiedet, bevor er ihn an die Polizei übergibt.
Marvel-Fans werden mit Sicherheit Dutzende, wenn nicht Hunderte solcher Querverweise in "Marvel's Spider-Man" finden und natürlich will das Spiel – als Werk von Fans für Fans – vor allem diese Zielgruppe zufriedenstellen. Das heißt aber nicht, dass alle anderen außen vor bleiben: Wer eine ungefähre Ahnung davon hat, wer Spider-Man ist, wird sich hier auch ohne Expertenwissen schnell wohlfühlen.
Vorschau-Fazit: Hat Kratos eigentlich Angst vor Spinnen?
"Marvel's Spider-Man" schickt sich an, ein weiteres PS4-Highlight zum Jahresende zu werden. Mit intuitivem, flottem Gameplay, einer beherzten Heldengeschichte und ganz viel Humor ist der Grundstein für eine weitere Erfolgsstory definitiv gelegt.
Auf die Frage nach den großen "God of War"-förmigen Fußstapfen, in die sein Game in diesem Jahr treten muss, gibt Creative Director Bryan Intihar im Interview übrigens die einzig richtige Antwort: "Ich hoffe, die Frage an die nächsten Entwickler lautet: 'Wie fühlt es sich an, sich mit 'Marvel's Spider-Man' messen zu müssen?" Wenn das Spiel das Tempo und den Witz der ersten Stunden über die volle Länge durchhalten kann, könnte die Messlatte nach dem Release tatsächlich nicht wesentlich niedriger liegen.