Die krassesten Schocker müssen keine glibberigen Monster oder grunzende Psychokiller auffahren, um uns bis ins Mark zu verstören. Das zeigt "The Nightingale" von der "Babadook"-Regisseurin Jennifer Kent. Eine Geschichte über die Unbeugsamkeit des Willens, über Rache, Vergebung und wie schwer es sein kann, an seiner Menschlichkeit festzuhalten. Mein Blu-ray-Tipp im Juni.
Tasmanische Teufel
Ich gestehe: Wenn ich in einer Rezension zu einem Horrorfilm lese, dass "Menschen ja die eigentlichen Monster" sind, kriege ich spontan einen Gähnkrampf. Ja, wissen wir, schon eine Million Mal durchgekaut, abgegriffen, öde bis ins Mark. Da braucht es schon ein bisschen mehr, um diese Floskel mit Leben zu füllen.
"The Nightingale" von Jennifer Kent schafft das so beeindruckend wie nur wenige Genrefilme in den vergangenen Jahren. Was hier passiert, dreht einem fast den Magen um, weil es "echt" ist. Und trotzdem verkommt der historische Rache-Thriller nie zum plumpen Elends-Porno. In "The Nightingale" geht es um Menschlichkeit in einer grausam unmenschlichen Welt.

Tasmanien zur Zeit des so genannten Schwarzen Krieges, also 1825. In der britischen Kolonie lebt die junge Irin Clare (sensationell: Newcomerin Aisling Franciosi) als verurteilte Straftäterin mit ihrem Mann und Baby – nahezu rechtlos und von den machtberauschten englischen Kolonialherren übel gedemütigt. Der junge, vermeintlich anständige Leutnant Hawkins (Sam Claflin) verspricht ihr die Freiheit, hält sie aber immer wieder hin. Eines Nachts eskaliert die angespannte Situation.
Was genau in dieser kaum zu ertragenden Sequenz passiert, lasse ich an dieser Stelle im Dunkeln. Nur so viel: Ich bin echt hart im Nehmen, mich kann man nicht so leicht schocken. Und ich musste mal kurz auf den Pause-Knopf drücken und tief durchatmen. Da läuft "The Nightingale" vielleicht gerade einmal 20 Minuten.
Clare wird nur noch vom Gedanken an Rache am Leben gehalten. Widerwillig schließt sie eine Allianz mit dem Aborigine Billy (Baykali Ganambarr in seiner ersten Rolle), der unter der Besatzung der Engländer genauso leidet wie Clare. Aus der gegenseitigen Feindseligkeit wird ganz langsam eine zarte, wackelige Freundschaft zweier geschundener Seelen. Billy und Clare machen sich auf in den tasmanischen Urwald, den britischen Mördern immer dichter auf der Spur. Es wird eine Reise ins Herz der Finsternis, die jede Figur für immer verändern wird.

Brutal, aber nicht gewaltgeil
Wenn Du nach dieser Inhaltsangabe denkst "Hmm, puh, das ist wohl kein Film für mich", dann ist das kein Film für Dich. Lass mich das so klar sagen. "The Nightingale" ist ein fantastischer Film mit überragenden schauspielerischen Leistungen, für mich um Längen besser als der überschätzte "Babadook" von derselben Regisseurin.
"The Nightingale" erzählt eine so allgemeingültige, fast schon archetypische Geschichte von Rache und Vergebung, Hass und Liebe, dass man schwören könnte, der Film basiert auf einem alten literarischen Klassiker, von dem man noch nie gehört hat. Er wirkt fast wie die extrem brutale Version einer recht simplen Märchengeschichte.
Aber er zeigt eben auch schwer zu verdauende Gewalt – ohne falsche Scheu, aber erbarmungslos. Nie reißerisch, aber ohne Sicherheitsnetz. Bei manchen Szenen möchte man sich einreden, dass die Autorin Kent hier ein bisschen übertrieben hat, dass es so schlimm schon nicht gewesen sein wird damals in Tasmanien, dass Menschen nicht so monströs verkommen sein können. Aber tief drinnen ahnt man doch, dass es genau so war und schlimmer.
Die Szenen, in denen Menschen ermordet werden, erinnern wegen ihrer schockierenden Beiläufigkeit an entsprechende Sequenzen in "Schindlers Liste", in der Nazi-Kommandant Amon Göth Leute hinrichtete, ohne nur einen Gedanken an sie zu verschwenden. Jeder Pistolenschuss geht einem durch Mark und Bein. Es ist brutal.

Aber, und auch das sage ich an dieser Stelle sicherheitshalber noch mal: "The Nightingale" ist kein Elends-Porno. Es geht nicht darum, uns emotional ins Koma zu prügeln und uns dann in der Gosse der eigenen Beklemmung liegen zu lassen. Der Kern dieser Geschichte ist ein zutiefst menschlicher.
Aber wie es ohne Dunkelheit kein Licht geben kann, werden Szenen von Güte, Warmherzigkeit und Anständigkeit haarsträubend grausamen Misshandlungen gegenübergestellt, körperlichen, emotionalen und sexuellen. Jede davon ist wichtig für die Geschichte, jede hat ihre Berechtigung. Wer sich über die lebensnahe Darstellung von Gewalt und menschenverachtendem Rassismus echauffiert, verkennt, worum es Jennifer Kent hier geht. Und sollte vielleicht besser gar nicht erst den Play-Knopf drücken.

Gar nicht speziell: Die Specials
Für mich einer der besten Horrorfilme der letzten Jahre, der auf einer sauber produzierten Blu-ray Einzug in die Privatsammlung hält. Somit ist das einzige Ärgernis, dass die enthaltenen Specials der normalen Verkaufsversion so mau ausfallen. Trailer, na ja, das ist ja wohl Standard. Und dann?
Das rund zwanzigminütige Making-of ist leider nur ein erzählter Rückblick, in dem viele Beteiligte schildern, wie fruchtbar die künstlerische Zusammenarbeit an "The Nightingale" war, aber tatsächliche Bilder vom eigentlichen Filmdreh kriegen wir nicht zu sehen. So ist der Erkenntnisgewinn leider eher gering.
Noch ärgerlicher ist das aber beim etwas irreführend benannten Special "Im Kontext". Das geht zwar rund eine halbe Stunde, aber tut leider überhaupt nicht das, was es augenscheinlich doch sollte: dringend benötigtes Hintergrundwissen zu den tatsächlichen historischen Grundlagen von "The Nightingale" schaffen.
Die blutige Geschichte Tasmaniens, die Kolonialisierung, die Massaker an den Ureinwohnern – diese Dinge vom anderen Ende der Welt sind (nicht nur) hierzulande nahezu unbekannt. Statt uns mittels Original-Dokumenten oder anderem Archivmaterial einen anschaulich-mitreißenden Geschichtsunterricht zu geben, erzählen uns die Schauspieler aber nur, wie interessant das doch alles ist und dass sie selber erst mal viel nachlesen mussten. Was man unweigerlich dann auch tun muss: Der Klick auf Wikipedia ist Pflicht, wenn man sich wirklich eingehend mit dem Thema befassen möchte. Schade – Chance vertan.

Gute Nachtigall
"The Nightingale" ist in meinem persönlichen Horror-Ranking der letzten Jahre auf einem der vorderen Plätze und ich hoffe, dass diese unbequeme Perle hier auf aufgeschlossene Genre-Liebhaber trifft. Ein wichtiger, wuchtiger Film, entsetzlich hart und gleichzeitig berührend hoffnungsvoll. Kein leichter Stoff, aber unbedingt sehenswerter. Wenn man den Magen dafür hat.
