"Mord im Orient-Express"-Filmkritik: Klassischer Stoff aufgepeppt

Fast alle sind verdächtig: Die Reisenden an Bord des Orient-Express.
Fast alle sind verdächtig: Die Reisenden an Bord des Orient-Express. Bild: © Twentieth Century Fox 2017

Über 40 Jahre nach seiner letzten Tour fährt der "Mord im Orient-Express" 2017 erneut in unsere Kinos ein. In unserer Filmkritik erfährst du, ob die neueste Verfilmung des Krimiklassikers von Agatha Christie hält, was sie verspricht – oder ob ihr auf der mörderischen Strecke der Dampf ausgeht.

Im Luxuszug von Istanbul nach London: Die Story

Es ist das Jahr 1934: Nachdem der belgische Meisterdetektiv Hercule Poirot (Kenneth Branagh, "Dunkirk") einen verzwickten Fall in Jerusalem gelöst hat, macht er sich mit dem Orient-Express von Istanbul aus auf die Rückreise nach London. Unter seinen Mitreisenden findet Poirot interessante menschliche Studienobjekte, von der verschlossenen Gouvernante Mary Debenham ("Star Wars"-Star Daisy Ridley) über die russische Prinzessin Natalia Dragomiroff (Judi Dench) bis zum zwielichtigen Geschäftsmann Edward Ratchett (Johnny Depp). Am nächsten Tag ist einer der 13 Reisenden tot – und Poirot muss schon bald erkennen, dass jeder der Passagiere ein Motiv hätte ...

Hercule Poirot auf Mörderjagd

Krimiautorin Agatha Christie, die britische Queen of Crime höchstpersönlich, schuf den schrulligen Ermittler mit dem ikonischen Schnäuzer und einer Vorliebe für heiße Schokolade. Seit 1916 schickte sie ihn in über 30 Romanen auf Mörderjagd. Der "Mord im Orient-Express" gehört zu den bekanntesten und aufsehenerregendsten Fällen des Detektivs. Nun macht sich Kenneth Branagh, der sich vor allem durch Shakespeare-Verfilmungen einen Namen gemacht hat, 2017 an eine frische Verfilmung des Stoffes, der zuletzt im Jahre 1974 auf den Kinoleinwänden zu sehen war. Die Kunst dieser Neuverfilmung liegt darin, einer Story, deren ungewöhnlicher Ausgang vielen bekannt sein könnte, dennoch neue Facetten abzuringen.

Enorme Schauwerte bei Setting und Cast

Kenneth Branagh hat sich beim Setting, Kostümen und dem Cast nicht lumpen lassen. Das Zeitkolorit in Jerusalem, Istanbul und die Fahrt durch die jugoslawische Landschaft fängt er perfekt ein. Und auch der luxuriöse Orient-Express lädt mit all seinem Detailreichtum zum Verweilen ein. Dass ich den "Mord im Orient-Express" in der Filmvorführung sogar auf 70-mm-Film genießen durfte, hebt diese Schauwerte natürlich noch hervor.

Anders als in anderen Verfilmungen des Krimistoffes beschränkt sich der Schauplatz – selbst nachdem der Zug in einer Schneewehe hängen bleibt – nicht auf Abteile und Innenräume des Zuges. Letztere werden sehr gekonnt aus der Vogelperspektive filmisch eingefangen, was dem Luxusgefährt etwas räumlich Erdrückendes verleiht. Auch Ausblicke ins Freie werden immer wieder gewährt, wo ein Rettungstrupp mit Hochdruck daran arbeitet, die Reisenden aus ihrer Misere zu befreien.

Hercule Poirot (Kenneth Branagh) muss seinen neuesten Fall lösen. fullscreen
Hercule Poirot (Kenneth Branagh) muss seinen neuesten Fall lösen. Bild: © Twentieth Century Fox 2017
Jeder ist verdächtig: sowohl Prinzessin Dragomiroff (Judi Dench) als auch ihre Zofe Hildegard Schmidt (Olivia Coleman, links). fullscreen
Jeder ist verdächtig: sowohl Prinzessin Dragomiroff (Judi Dench) als auch ihre Zofe Hildegard Schmidt (Olivia Coleman, links). Bild: © Twentieth Century Fox 2017
Auch Gouvernante Mary Debenham (Daisy Ridley) hat etwas zu verbergen. fullscreen
Auch Gouvernante Mary Debenham (Daisy Ridley) hat etwas zu verbergen. Bild: © Twentieth Century Fox 2017
Macht sie nur gute Miene zum bösen Spiel? fullscreen
Macht sie nur gute Miene zum bösen Spiel? Bild: © Twentieth Century Fox 2017
Hercule Poirot (Kenneth Branagh) muss seinen neuesten Fall lösen.
Jeder ist verdächtig: sowohl Prinzessin Dragomiroff (Judi Dench) als auch ihre Zofe Hildegard Schmidt (Olivia Coleman, links).
Auch Gouvernante Mary Debenham (Daisy Ridley) hat etwas zu verbergen.
Macht sie nur gute Miene zum bösen Spiel?

Bei der Besetzung der Zugreisenden setzt Branagh auf beste Qualität. Zahlreiche Oscarpreisträger und Nominierte gehören zum Cast und hübschen die Romanfiguren filmtauglich auf. Dame Judi Dench verleiht der russischen Prinzessin, die im Buch als abgrundtief hässlich beschrieben wird, ein aristokratisches Gehabe. Und die schwedische Missionarin mit einem Schafsgesicht wird zu einer wie gewohnt bezaubernden, wenn auch bedrückten, Penélope Cruz. Johnny Depp, der sichtlich Freude daran hat, den herrlich schmierigen Ganoven Ratchett zu spielen, ist auch im Vergleich zur Romanfigur sichtlich verjüngt.

Bemerkenswerte Änderungen zur Romanvorlage von Agatha Christie

Auch peppt Branagh seinen "Mord im Orient-Express" mit einer Prise Action auf. Im Roman löst Poirot den Fall nur mithilfe seiner Beobachtungsgabe, Befragungen der Reisenden und natürlich unter Zuhilfenahme seiner grauen Zellen. Anders im Film, der mit einer Verfolgungsjagd, einem Dolchstoß und sogar einem Schuss auf den Detektiv an Tempo gewinnt. Abgesehen von einem seltsam überzeichneten, schlagwütigen Grafen Andrenyi, einem weiteren Fahrgast des Zuges, wird die Action jedoch so dezent eingesetzt, dass sie der Vorlage durchaus noch gerecht wird.

Die bemerkenswerteste Änderung ist, dass Branagh aus dem britischen Armeeoffizier Arbuthnot nicht nur einen Arzt macht (und damit zwei Figuren miteinander verschmelzen lässt), sondern ihm eine schwarze Hautfarbe gibt. Damit wird für zusätzlichen Konflikt im Zug gesorgt. Auch im Roman, der nun mal aus dem Jahre 1934 stammt, ist ein unterschwelliger Rassismus zu spüren: So beispielsweise, wenn für Monsieur Bouc, den Direktor der Eisenbahngesellschaft, gleich klar ist, dass der italienische Fahrgast den Mord begangen haben muss.

Branagh kehrt das jedoch um: Sein Bouc (Tom Bateman), im Film ein junger Draufgänger, bittet den Meisterdetektiv um Hilfe, damit nicht automatisch der farbige Arbuthnot oder der gutherzige Italiener vorverurteilt werden. Und das ist schließlich das Zünglein an der Waage, das Poirot den Fall übernehmen lässt.

Starzauber geht im großen Ensemble unter

Zwar ist der Figurenreichtum des Films groß und besteht aus allen Klassen und Gesellschaftsschichten. Aber durch die Fülle an Nebenfiguren kann der Zuschauer zu keiner von ihnen eine wirkliche Verbindung aufbauen. Schauspielergrößen wie Judi Dench und Michelle Pfeiffer machen ihre Sache zwar gut, können in ihren wenigen Szenen jedoch leider keine mehrdimensionalen Figuren entwickeln. Diese Aufgabe liegt ganz klar bei unserem Ermittler.

Beim Meisterdetektiv liegt für mich jedoch ein weiterer kleiner Knackpunkt in einer an sich gelungenen klassischen Verfilmung. Kenneth Branagh konnte es sich nicht verkneifen, sich selbst als Meisterdetektiv zu besetzen. Er verpasste ihm zudem einen so mächtigen Schnurrbart, dass man sich in Szenen mit der Spürnase kaum auf etwas anderes konzentrieren kann. Branagh macht aus Poirot einen teilweise sehr sentimentalen Ermittler, dessen unbeirrbarer Glaube an klare Kategorien wie Gut und Böse durch diesen Fall ins Wanken gerät.

Mrs. Hubbard (Michelle Pfeiffer) beklagt, dass ein Mann in ihrem Abteil war. fullscreen
Mrs. Hubbard (Michelle Pfeiffer) beklagt, dass ein Mann in ihrem Abteil war. Bild: © Twentieth Century Fox 2017
Welche Rolle spielt der mysteriöse Mr. Ratchett (Johnny Depp)? fullscreen
Welche Rolle spielt der mysteriöse Mr. Ratchett (Johnny Depp)? Bild: © Twentieth Century Fox 2017
Offenbar gehen er und der Sekretär Hector MacQueen (Josh Gad) gemeinsamen Geschäften nach. fullscreen
Offenbar gehen er und der Sekretär Hector MacQueen (Josh Gad) gemeinsamen Geschäften nach. Bild: © Twentieth Century Fox 2017
Die Missionarin Pilar Estravados (Penélope Cruz) ist nicht über jeden Verdacht erhaben. fullscreen
Die Missionarin Pilar Estravados (Penélope Cruz) ist nicht über jeden Verdacht erhaben. Bild: © Twentieth Century Fox 2017
Mrs. Hubbard (Michelle Pfeiffer) beklagt, dass ein Mann in ihrem Abteil war.
Welche Rolle spielt der mysteriöse Mr. Ratchett (Johnny Depp)?
Offenbar gehen er und der Sekretär Hector MacQueen (Josh Gad) gemeinsamen Geschäften nach.
Die Missionarin Pilar Estravados (Penélope Cruz) ist nicht über jeden Verdacht erhaben.

Allein in seinem Abteil trauert der eingefleischte Junggeselle wiederholt einer vergangenen Liebe namens Katherine nach. Diese Parts sollen wohl aufzeigen, dass Poirot auch Liebe und Verlust kennt. Wichtiger wäre es jedoch meiner Meinung nach gewesen, den Fokus stärker auf die Figurenzeichnung und das Zusammenspiel der Verdächtigen zu legen.

Auch fehlt Branaghs Poirot – außer dem steten Drang nach Perfektion – ein Großteil seiner liebenswerten Schrulligkeiten, die beispielsweise Peter Ustinov in der Rolle des Ermittlers so herrlich herauskitzeln konnte. Und gerade Poirot als Figur muss stimmen, da sie neben dem Mordfall das Kernstück des Filmes ist.

"Mord im Orient-Express": Fazit

Branaghs Vision von "Mord im Orient-Express" lässt sich als klassisch im besten Sinne bezeichnen und wartet mit viel Zeitkolorit und einer ganzen Riege an Schauspielstars auf. Mit einem passenderen Poirot-Darsteller und mehr Augenmerk auf die Figuren als auf Sentimentalitäten hätte die Agatha-Christie-Verfilmung das Zeug zum modernen Klassiker gehabt. So bleibt sie ein spannender, wunderbar in Szene gesetzter Krimi der alten Schule.

Angebot
Mord im Orient-Express
Mord im Orient-Express
  • Datenblatt
  • Hardware und software
  • Originaltitel
    Murder on the Orient Express
  • Produktionsland/-jahr
    USA 2017
  • Genre
    Crime, Drama, Mystery
  • Besetzung
    Kenneth Branagh, Johnny Depp, Michelle Pfeiffer, Daisy Ridley, Willem Dafoe, Penélope Cruz, Judi Dench
  • Regie
    Kenneth Branagh
  • Kinostart (D)
    23. November 2017
TURN ON Score:
3,5von 5
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