Phänomen Reaction-Videos: Warum ich anderen beim Fernsehen zugucke

Jutta Peters10. JANUAR 2024
Drei Frauen sitzen auf einem Sofa und blicken auf einen Laptop.

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Ein YouTuber schaut sich einen Clip, einen Trailer, einen Film oder eine Serie an und filmt sich dabei – und fertig ist ein sogenanntes Reaction-Video. Klingt verrückt? Vielleicht. Wer sich so etwas anschauen würde? Na, ich! Warum ich das tue, weiß ich allerdings selbst nicht. Deshalb habe ich mit einem Medienexperten über das Internetphänomen gesprochen.

Reaktionskette: Vom TV ins Internet

Wer auf YouTube nach „Reaction-Video“ sucht, wird gefilmte Reaktionen auf so ziemlich alles finden: Essen, Produktneuheiten, Musik, Videospiele, Trailer und Theorien zu Filmen und Serien – und fast all diese Videos haben extrem viele Views. Es scheint, als gäbe es für wirklich alle(s) ein Publikum.

Angefangen hat der Trend im asiatischen Fernsehen: In japanischen TV-Shows werden häufig in einem kleinen Fenster Reaktionen von mehr oder minder prominenten Menschen eingeblendet. Deren zustimmendes Nicken oder Lachen ist vergleichbar mit den eingespielten Lachern in Sitcoms. Von Zeit zu Zeit wird auch ein schockiertes Aufkeuchen oder ein Aufschrei des „Publikums“ eingeblendet.

Diese heftigen Reaktionen sollen vornehmlich dafür sorgen, dass die Aufmerksamkeit von Zuschauern, die nur nebenbei fernsehen, wieder auf den Bildschirm gelenkt wird, erklärt ein Insider auf Reddit.

2007 begann der Siegeszug des Phänomens auf YouTube: Der pornografische Trailer „2 Girls 1 Cup“ löste eine Welle an Reaction-Videos aus. Seitdem hat sich viel getan: Inzwischen gibt es Reaction-Videos zu ganzen TV-Serien – und die werden von fast so vielen Menschen angesehen wie die Original-Serien selbst.

Sogar „Game of Thrones“-Autor George R. R. Martin hat einen Heidenspaß an den Reaction-Videos zur TV-Adaption seiner Romane.

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Warum schauen wir Reaction-Videos? Nachgefragt bei einem Experten für Medienkultur

Aber weshalb gucken ich und viele andere eigentlich so gerne Reaction-Videos? Eine Frage, die mir schon oft gestellt wurde und die ich irgendwie nicht beantworten konnte. Deshalb habe ich bei Prof. Dr. Rolf Nohr nachgefragt, einem Universitätsprofessor für Medienästhetik und Medienkultur an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig.

TURN ON: „Was macht Ihrer Meinung nach die Faszination dieser Clips aus? Warum sehen viele Menschen anderen Menschen gerne dabei zu, wie sie sich eine Serie ansehen oder etwas Neues zu Essen probieren?“

Prof. Dr. Rolf Nohr: „Zwei Aspekte scheinen mir besonders herauszustechen: Das ist einmal die Neugier des Menschen und zum anderen die Wahrnehmung, dass wir als Menschen am Ende doch Gruppen- und Rudelwesen sind. Wir suchen die Gemeinschaft. Wenn ich mir anschaue, wie Menschen auf einen Film reagieren, den ich selbst schon gesehen habe, bin ich neugierig, wie andere auf etwas reagieren, auf das ich selbst schon reagiert habe. Dabei geht es mir darum, zu überprüfen, ob und wie meine Reaktionen in einem Verhältnis zu der ‚gesellschaftlichen Normalität‘ stehen.

Entscheidender ist aber, dass wir Medien zumeist alleine benutzen. Wir suchen also, bewusst oder unterbewusst, nach der Gemeinschaft der anderen Mediennutzer. Das ist dann eine Selbstversicherung, dass wir nicht vollständig alleine sind mit dem, [...] für das wir uns begeistern.“

TURN ON: „Ich selbst bin großer Fan verschiedener Reaction-Kanäle auf YouTube, viele meiner Kollegen hingegen können meine Faszination überhaupt nicht nachvollziehen. Warum reizt das Format einige Menschen stärker als andere?“

Prof. Dr. Rolf Nohr: „Ich denke, eine der wesentlichen Unterscheidungen hierbei ist es, ob man Medien mehr in einem konsumierenden oder mehr in einem kommunikativen Sinne benutzt. Wer Medien eher konsumiert, der kann vielleicht gar nicht verstehen, warum andere Menschen, die Medien mehr als einen kommunikativen Raum verstehen, sehr daran interessiert sind, Reaktionen eines Gegenübers zu erhalten – selbst wenn sie nur so vermittelt oder um die Ecke kommuniziert sind wie Reaction-Videos.

Ähnliche Unterschiede sehen wir auch darin, dass es manchen Leuten sehr wichtig ist, im Kommentarbereich mit YouTubern zu kommunizieren, und anderen nicht, und dass es manchen Menschen sehr wichtig ist, Computerspiele als Multiplayer zu betreiben und andere eher zum Singleplayer tendieren.“

Eine Frau sitzt an einer Heizung mit einem Tablet in der Hand.

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Generell spielten viele Faktoren bei der Tendenz zur Bildung virtueller Gemeinschaften eine Rolle, so der Medienexperte weiter. Man könnte auch darüber spekulieren, ob „in den letzten Jahren ein bestimmter Trend zum Cocooning aufgekommen ist, der uns bereits vor Corona dazu gebracht hat, verstärkt zu Hause zu bleiben“ und deshalb Quasi-Gemeinschaften zu bilden, pauschalisieren wolle er aber nicht.

Meine liebsten (englischsprachigen!) Reaction-Channels im Überblick

  • Für nerdiges Fachwissen: Blind Wave
  • Zum Seriengucken wie mit den besten Freunden: Nikki & Steven React
  • Für schräge Sketche und witzige Kommentare: The Reel Rejects

Fazit: Ich bin ein kommunikativer Mediennutzer

Es stimmt: Wenn ich eine spannende Serie oder einen guten Film gucke, ist mein erster Impuls, mit anderen Gleichgesinnten über das Gesehene sprechen zu wollen. Die Reaction-Videos sind da nur die Spitze des Eisbergs. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich den Satz „Guck das unbedingt, ich will wissen, was du dazu sagst“ schon zu Freunden und Kollegen gesagt habe.

Nicht selten ertappe ich mich dabei, wie ich sogar im heimischen Wohnzimmer meine „Mitgucker“ aus dem Augenwinkel beobachte, weil ich ihre Reaktionen fast interessanter finde als das Geschehen auf dem Bildschirm. Und jetzt weiß ich auch endlich warum: Ich bin ein kommunikativer Mediennutzer.

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