Nach über 40 Stunden läuft der Abspann und ich habe die Story von "Death Stranding" nur grob verstanden. Aber ich weiß: Dieses Game wird vielen überhaupt nicht gefallen. Ich war selten so gespannt darauf, selber die Reviews lesen zu können. Denn irgendwie passt "Death Stranding" nicht so recht in unsere Zeit – und vielleicht gefällt es mir gerade deswegen gut.
Die Spannung um "Death Stranding", das erste unabhängige Spiel von "Metal Gear"-Schöpfer Hideo Kojima, ist bereits seit Jahren groß: Was sollte das für ein Spiel sein, das 2016 angekündigt wurde und mit nebulösen Trailern neugierig machte? Kojima selbst sprach davon, ein neues Genre begründen zu wollen und redete in Interviews von Stöcken und Seilen als Grundlagen für Spielewelten.
Die Handlung: Wandern für die Wiedervereinigung
Mit dem Antrieb, das Mysterium endlich zu lüften, stürzte ich mich in den Test. Nach dem Abspann, genauer gesagt, dem zweiten Abspann – es ist kompliziert –, bin ich mir jedoch immer noch unsicher, ob ich die Story in ihrer Gänze verstanden habe. Ähnlich wie bei Kojimas "Metal Gear"-Saga ist die Handlung komplex, um die Ecke gedacht und hinten durch eine Lasche wieder mit sich selber verwoben. Aber zumindest die grundlegende Idee lässt sich grob umschreiben.
Nordamerika in nicht all zu ferner Zukunft: Die USA sind nach einem apokalyptischen Ereignis namens "Gestrandeter Tod" wie ausgestorben und verwüstet, die letzten Menschen leben in unterirdischen Anlagen. Ich spiele Sam Porter Bridges. Er ist Lieferant (englisch Porter) für eine Organisation namens Bridges und besitzt bestimmte Eigenschaften, die es ihm ermöglichen, die feindliche Natur zu durchqueren. Umwelteinflüsse machen es unmöglich, Güter durch die Luft zu transportieren, daher ist man auf Lieferanten wie Sam angewiesen.

Die Gesellschaft ist in vereinzelte Siedlungen zerbrochen, einige Gestrandete hausen als Einsiedler abgeschieden in Bunkern. Sam soll Amerika wiedervereinen und seine Bewohner mit dem "Chiralen Netzwerk" verbinden, einer Art metaphysischem Internet. Dazu erledigt er Lieferantenaufträge und durchquert dabei den Kontinent von Osten nach Westen. Am Ende seiner Reise soll er die Tochter der verstorbenen Präsidentin aus ihrer Gefangenschaft an der Westküste befreien, damit sie die United Cities of America in eine rosige Zukunft führt.
Gameplay: Liefern, Schleichen und auch Action – irgendwann
Aber was genau tut man denn jetzt in "Death Stranding"? Die im Vorfeld veröffentlichten Trailer gaben einen unklaren Eindruck von Wanderungen in der Open World, Stealth und moderaten Action-Einlagen. Trotzdem wurde immer wieder vermutet, dass Kojima hier eine falsche Fährte auslegt und das fertige Spiel eine versteckte Gameplay-Ebene hat. Aber insgesamt lässt sich das Spiel tatsächlich relativ gut auf diese drei Elemente herunterbrechen:
Sam führt Lieferaufträge in der Open World aus. Dabei kommt es darauf an, Lasten so zu tragen, dass der eigene Schwerpunkt möglichst gut zu kontrollieren ist. Denn die Wanderungen durch unwegsames Gelände erfordern Balance, die der Spieler mit den Schultertasten des Controllers beeinflusst. Fahrzeuge, Leitern und Abseilvorrichtungen helfen, die raue Welt von "Death Stranding" zu durchqueren. Unterwegs können auch verlorene Fracht und Ressourcen eingesammelt werden.

In Schleichpassagen muss Sam geisterhafte Schemen umgehen. Dabei hilft der Säugling in dem Container an seiner Brust: Das "B.B." ist mit dem Jenseits verbunden – wie gesagt, es ist kompliziert – und kann die Wesen für Sam kurzzeitig sichtbar machen. Außerdem zeigt ein Roboterarm auf Sams Schulter, genannt Odradeck, Richtung und Abstand zu diesen Wesen an. Kommt der Spieler ihnen doch zu nahe, suchen teergefüllte Handabdrücke nach Sam, die ihn in einen Abgrund ziehen wollen.
Plötzlich manifestiert sich ein schwarzer See um die Spielfigur und teergetränkte Körper zerren an ihr. Gebäude und Autowracks tauchen aus der Tiefe auf, während Sam durch öligen Schlamm watet. Dann greifen große Monster aus der Zwischenwelt an – bekämpfen kann Sam sie zunächst nur mit Granaten, die er aus seinen eigenen Körperflüssigkeiten herstellt. Besonders sein Blut erweist sich als wirksam, aber auch Sams Exkremente eignen sich bestens, um den Wesen Schaden zuzufügen.

Kämpfe gegen menschliche Gegner gibt es in "Death Stranding" auch: Die kultartige Gruppierung der MULEs besteht aus Boten, die buchstäblich süchtig nach Lieferungen sind. Durchquert Sam während eines Auftrags eines ihrer Gebiete, machen sie Jagd auf ihn und seine Ladung. Das Problem: Leichen verursachen in der Spielwelt so genannte Void-Outs, gewaltige Explosionen. Der Einsatz tödlicher Waffen ist daher im Spiel nur bedingt zu empfehlen – es sei denn, man hat Lust, einen Körper zwecks fachgerechter Entsorgung kilometerweit zu transportieren.
Passiver Multiplayer: Likes in der Postapokalypse
In einem Spiel über die Einsamkeit Multiplayer-Features unterzubringen, ist typisch für den Humor von "Death Stranding". Dabei weist die Mehrspielermechanik Parallelen zu der Gemeinschaftlichkeit auf, die wir in sozialen Medien leben – wir honorieren Postings mit Reaktionen wie Likes. So ist es auch hier: Hinterlässt ein Spieler in der Open World Leitern, Abseilvorrichtungen, Fahrzeuge, Bauwerke wie Brücken oder auch verlorene Lieferungen, tauchen sie potenziell auch im Spiel von anderen auf.

Andere Spieler können dann einen Like vergeben, die erschienenen Gegenstände nutzen, Bauvorhaben mit Ressourcen vorantreiben oder Lieferungen fertigstellen – für weitere Likes. Auch Figuren im Spiel, sogar das B.B., geben Sam für bestimmte Aktionen Likes. Je mehr der Spieler davon sammelt, desto höher wird sein Rang. Damit steigert sich die Anzahl an Spielern, mit denen Spielelemente geteilt werden, die dann in der Welt gesehen und genutzt werden.
Die tote Einöde als Augenschmaus in HDR
Die ursprüngliche PS4 ist bereits seit 2013 im Handel, die PS4 Pro immerhin seit 2016. Angesichts der hervorragenden Grafik von "Death Stranding", vor allem bei eingeschaltetem HDR-Feature, ist das kaum zu glauben. Spielwelt und Charaktermodelle in solch hoher Qualität habe ich auf Konsolen bisher noch nicht gesehen – der Preis dafür ist allerdings eine leere, tote Welt, in der der Spieler nur sehr wenigen Menschen begegnet.
Allerdings wird diese Leere äußerst organisch zum Teil des Spielerlebnisses gemacht, während sie in anderen Games seltsam schräg wirkt. Allein das topografische Vorbild Island ist für "Death Stranding" perfekt gewählt: karg, öde und kalt, aber gleichzeitig grün und fruchtbar.

Die Einsamkeit von Sam und seine stoische Plackerei werden ebenfalls geschickt ins Spiel eingewoben und bewirken eine seltsame Nähe zwischen Spieler und Spielfigur. Als bei mir während einer Wanderung in der Ferne das erste Mal ein anderer Bote auftauchte, blieb ich wie angewurzelt stehen und war zunächst unsicher, ob ich mich freuen oder weglaufen sollte. So holt "Death Stranding" atmosphärisch das Beste aus dem notwendigen Übel einer offenen Welt heraus, die technisch bedingt menschenleer ist und konzentriert sich auf seine minimalistische Pracht.
Ob Kunst oder Experiment, wer soll das eigentlich spielen?
Der Kult um Hideo Kojima, der jetzt zum Release auf dem Höhepunkt ist, erfüllt mich schon ein wenig mit Unbehagen. Ich glaube, dass "Death Stranding" für sehr viele Leute, die jetzt für ein Selfie mit dem Entwickler anstehen, überhaupt gar nichts sein wird – dafür ist das Spiel zu anders aufgebaut, als wir es von aktuellem Entertainment gewöhnt sind. Es als schwere Kost für Intellektuelle hochzuloben, wird dem nicht gerecht – man kann "Death Stranding" auch dann als langweilig und langatmig empfinden, wenn man sich auf die Ideen dahinter einlässt.
Wer aber auf Games mit weniger Tempo und einigen frischen Ideen aus ist, kann an "Death Stranding" durchaus gefallen finden. Wer auf abgefahrene Geschichten steht, die man sich wohl nur bei einer Flasche Sake und einer fein säuberlich auf den Spiegel geklopften Line Wasabi zusammenzimmern kann, der ist hier ohnehin richtig. Eine straff geregelte Erzählstruktur und Endorphinausschüttung, getaktet nach den gewohnten Regeln der Gaming-Kultur, darf man dagegen nicht erwarten.
Längen und Langeweile? Was soll's, ich liebe es.
Es ist erfrischend, ein so andersartiges Game aus dem Triple-A-Segment zu spielen. Ist "Death Stranding" also der mutigste Exklusivtitel der PS4-Generation? Klar ist, dass Sony keinem anderen als Hideo Kojima erlaubt hätte, ein solch abwegiges Konzept umzusetzen. Nach Kojimas Bruch mit Konami wollte der PlayStation-Konzern den Spielemacher unbedingt verpflichten, dafür hat man offenbar einige Zugeständnisse gemacht und ihm viele Freiheiten eingeräumt. Ob das etwas mit Mut zu tun hatte, sei dahingestellt.

Ich bewundere das Game als Showcase seiner Gameplay-Mechaniken, die ineinander greifen wie das Innere einer wunderlichen Spieluhr und bei mir dabei ein befriedigendes Gefühl auslösen. Der episch anmutende Hintergrund und die tolle Optik machen "Death Stranding" zu einem Kuriosum, das mich auch die pathetische Story verzeihen lässt. Es als revolutionär zu bezeichnen, wäre in meinen Augen überhöht. Wer sich aber für das Medium Videospiele interessiert und dafür, was es außer "Call of Duty" oder "Assassin's Creed" noch sein kann, sollte "Death Stranding" gespielt haben.
Das hat mir gefallen | Das hat mir weniger gefallen |
+ Zusammenspiel verschiedener Mechaniken | - Story voller Pathos |
+ Blockbuster mal anders | - Cutscenes mit Überlänge |
+ Visuell hervorragend |