Mit dem VR-Spiel "The Invisible Hours" stößt Entwickler Tequila Works das Tor in eine neue Welt des Storytellings auf. Im Test haben wir uns angeschaut, ob der Titel für Oculus Rift, HTC Vive und PlayStation VR eher als Spiel oder als interaktiver Film überzeugen kann – und bekamen dabei ein interessantes Experiment zu sehen.
"Dies ist kein Spiel und auch kein Film. Dies ist ein immersives Theater." Mit diesen einleitenden Worten beginnt "The Invisible Hours", das erste VR-Spiel der spanischen Entwickler Tequila Works. Die hatten erst vor wenigen Monaten mit dem ebenso starken wie ungewöhnlichen Adventure "The Sexy Brutale" für Aufsehen gesorgt und schicken sich nun an, einen ebenso ungewöhnlichen Titel für aktuelle VR-Headsets abzuliefern. Denn auch wenn ich "The Invisible Hours" in diesem Test der Einfachheit halber weiterhin als "Spiel" bezeichnen werde, so haben die Entwickler doch recht: Ein Spiel im klassischen Sinne ist dieses Game nicht.
Der erste wirklich interaktive Spielfilm
Tatsächlich liefert Tequila Works mit seinem neuesten Titel so etwas wie einen interaktiven Spielfilm ab – vielleicht sogar den ersten, der diese Bezeichnung wirklich verdient. Als "Spieler" bin ich dank der VR-Brille quasi mittendrin im Geschehen und kann ganz nach Lust und Laune durch das Set wandern. An der Handlung selbst nehme ich aber nicht Teil. Ich bin mehr so etwas wie ein unsichtbarer Beobachter, den die anderen Charaktere nicht sehen können. Ich habe auch keinerlei Möglichkeit, mit den anderen Personen in Kontakt zu treten oder mit meiner Umgebung zu interagieren.

Das mag zunächst etwas öde und wenig aufregend klingen, aber seinen Reiz entfaltet "The Invisible Hours" ohnehin nicht über Action, sondern vielmehr über Atmosphäre, Story und über die Möglichkeit, eine Kriminalgeschichte auf eine völlig neue Art zu erleben.
Wie in einem lebendigen Agatha-Christie-Roman
Schauplatz und Handlung des Spiels könnten direkt aus einem Agatha-Christie-Roman stammen. So beginnt die Geschichte mit der Ankunft des schwedischen Ermittlers Gustaf Gustav auf einer verregneten kleinen Insel, auf welcher der Erfinder Nicola Tesla abgeschieden in einer Villa lebt. Doch in der Villa angekommen, stellt sich heraus, dass Tesla ermordet wurde und als Hauptverdächtige kommen natürlich die Personen infrage, die sich mit ihm auf der Insel befinden: War es sein blinder Butler Oliver Swan? Seine ehemalige Assistentin Flora White? Der verwöhnte Sohn eines Eisenbahnmagnaten? Die berühmteste Schauspielerin der Welt – oder doch sein größter Rivale Thomas Edison?

Wie es sich für eine gute Kriminalgeschichte gehört, haben alle Anwesenden ein Motiv und alle haben etwas zu verbergen. Es liegt am Spieler, beziehungsweise Zuschauer, diese Geheimnisse aufzudecken und im Stillen eigene Ermittlungen zu unternehmen. Anders als in einem Kinofilm bin ich dabei mein eigener Kameramann, kann mich jederzeit an jeden Ort auf der Insel bewegen und in Echtzeit mitverfolgen, was dort geschieht. Während die Handlung in Echtzeit abläuft, entscheide ich selbst, welcher Person ich folge, welches Gespräch ich belausche und welchen Ort ich zu welcher Zeit erkunde.
Der Spieler als stiller Detektiv
Das Erkunden besteht dabei vor allem im guten Beobachten von Personen, Orten und Gegenständen und einem Auge für Details. Einzelne Objekte kann ich sogar in die Hand nehmen und ganz genau betrachten, aber nicht vom Ort des Geschehens entfernen oder anders platzieren. Auf Wunsch kann ich sogar die Zeit anhalten und die Szenerie einfrieren. Das mächtigste Werkzeug des Spielers ist jedoch die Möglichkeit, die Zeit zurückzuspulen und das Geschehen anschließend noch einmal aus einem anderen Blickwinkel zu verfolgen – oder an einem ganz anderen Ort. Tatsächlich ist in Teslas Villa nämlich so einiges los.

Sound und Dialoge auf Kino-Niveau
Technisch ist "The Invisible Hours" ein zweischneidiges Schwert. Beim Sounddesign, bei den Dialogen und bei deren Vertonung haben die Entwickler ganz klar geklotzt. Angesichts der Tatsache, dass VR-Spiele immer noch ein Nischenmarkt sind, verdient es meines Erachtens sogar besonderes Lob, dass sich Tequila Works auch für die deutsche Übersetzung erfahrene Sprecher geholt hat, um die vielen, vielen Dialogzeilen zu vertonen. Die Mühe zahlt sich für die Spieler aus, denn das gute Sounddesign ist für die Atmosphäre natürlich ungemein wichtig.
Grafisch stilvoll mit Spar-Texturen
Die grafische Umsetzung kann hingegen nicht ganz überzeugen. "The Invisible Hours" ist zwar kein hässliches Spiel, aber es gibt mittlerweile eben auch deutlich schickere VR-Games. Dargestellt wird das Ganze in einem comicartigen Stil, der an sich stimmig umgesetzt ist. Auch die Gestaltung der Schauplätze an sich ist nicht das Problem. Vielmehr sind es die schwachen und zu niedrig aufgelösten Texturen, die dem Erkunden der virtuellen Spielwelt etwas Glanz nehmen. Um beispielsweise die Mimik in den Gesichtern der Personen wirklich zu erkennen, muss ich als Spieler schon direkt neben ihnen stehen. Auch Details in der Umgebung erkenne ich nur aus der Nähe.

Wer die Wahl zwischen PS4 und PC hat, sollte "The Invisible Hours" deshalb lieber mit den höher auflösenden Headsets Oculus Rift oder HTC Vive zocken. Gerade dort fällt aber auch auf, wie weit der Titel grafisch von aktuellen Spitzen-VR-Games wie "Robo Recall" oder "Dead Effect 2 VR" entfernt ist.
Fazit: Ein faszinierender erster Blick in ein neues Medium
Die Entwickler haben recht: "The Invisible Hours" ist kein Spiel im klassischen Sinne und es ist auch kein Film. Tatsächlich bewegt es sich aber näher an letzterem und erlaubt den Spielern/Zuschauern, eine völlig neue Perspektive einzunehmen. Allerdings wird Aktivität ganz klar belohnt, denn nur wer sich die Mühe macht, allen Charakteren im richtigen Moment zu folgen, alle Dialoge mithört und auf alle kleinen Details in der Umgebung achtet, wird wirklich alle Ebenen der Handlung verstehen.
Als unsichtbarer Beobachter habe ich dank der Zeitreise-Mechanik die Möglichkeit, stets überall zu sein und alle Details zu kennen – mehr als die einzelnen Charaktere der Geschichte. Das ist aber kein Muss. Ich habe nämlich auch die Wahl, bestimmten Personen ganz bewusst nicht zu folgen und einzelne Dialoge mit Absicht nicht zu belauschen. So werde ich zu einem späteren Zeitpunkt der Handlung von dem überrascht, was abseits meiner Aufmerksamkeit passiert ist.

Diese ungewöhnliche Mechanik macht den Reiz von "The Invisible Hours" aus, das ganz gewiss kein Spiel für Jedermann ist. Es erzählt auch nicht die beste Kriminalgeschichte aller Zeiten oder hat die kreativsten Charaktere. Trotzdem funktioniert dieses ungewöhnliche Experiment und stößt damit das Tor in eine neue Form der visuellen Unterhaltung auf. Die VR-Technik gibt Krimi-Fans hier die Möglichkeit, eine Story mal auf eine ganz neue Art und Weise zu erleben. Man sollte allerdings mindestens eine bis zwei Stunden Zeit für jedes der vier Story-Kapitel einplanen – und muss beim Spielen natürlich die Bereitschaft mitbringen, einfach nur zuzusehen oder zuzuhören.
Für Gamer, die auf schnelle Action stehen, ist "The Invisible Hours" damit ganz klar der falsche Titel. Fans der Virtual Reality, die gerne sehen und erleben wollen, welche neuen Möglichkeiten die Technik eröffnet, sollten jedoch unbedingt einen Blick riskieren.