Wie unzählige Leser weltweit habe ich Elena Ferrantes neapolitanische Saga verschlungen. Dass der vierteilige Romanzyklus als Serie "Meine geniale Freundin" verfilmt wurde, entdeckte ich jedoch nur zufällig. Geht es vielleicht nicht nur mir so? Wenn ja, möchte ich die Gelegenheit nutzen, Dir die Serie über eine besondere Frauenfreundschaft im Italien der Nachkriegszeit ans Herz zu legen. Die Serie ist nämlich für Fans der Bücher sowie Neulinge gleichermaßen sehenswert.
- "Meine geniale Freundin": Die Handlung
- Komplexe Frauenfreundschaft entfaltet Sogwirkung
- Jeder Band bekommt eine Staffel
- Produktion setzt auf italienischen Cast
- 50 Figuren bevölkern den Rione
- Fazit
Bei der Coming-of-Age-Serie handelt es sich um eine Koproduktion des italienischen Senders RAI und des US-Bezahlsenders HBO. Letzterer brachte schon so unterschiedliche Serien wie "Die Sopranos", "Sex and the City" und "Game of Thrones" hervor. Ein Zeichen, dass man inhaltlich breit aufgestellt ist – und auf Qualität setzt.
"Meine geniale Freundin": Die Handlung
Im Mittelpunkt des Geschehens in Buch und Serie stehen die Freundinnen Raffaella Cerullo, genannt Lila, und Elena Greco, genannt Lenu. Die beiden wachsen in den 1950er-Jahren im Rione auf, einem Arbeiterviertel im Osten von Neapel. Das Leben dort ist geprägt von Armut, aber auch großem Zusammenhalt zwischen den verschiedenen Großfamilien. Lila ist die Tochter eines jähzornigen Schusters. Sie ist wild, furchtlos und extrem intelligent. Doch trotz ihres großen Potenzials erlaubt ihr Vater nicht, dass sie auf eine weiterführende Schule geht.
Lenus Familie ist etwas besser gestellt, ihr Vater ist ein Pförtner. Anders als ihre beste Freundin darf die eher ängstliche, ruhige, aber auch fleißige Lenu auf Drängen der Lehrer weiter lernen. Dadurch unterscheiden sich die zukünftigen Lebenswege der Freundinnen erheblich: Während Lila früh in einer unglücklichen Ehe gefangen ist, macht Lenu das Abitur und geht zum Studieren nach Pisa. Die Handlung erstreckt sich insgesamt über mehr als ein halbes Jahrhundert.
Komplexe Frauenfreundschaft entfaltet Sogwirkung
Zugegeben, die knappe Inhaltsangabe klingt nicht weltbewegend, sondern nach einem weiteren historisch angehauchten Schmöker bzw. einer seichten Serie aus dem Abendprogramm der Öffentlich Rechtlichen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Autorin Elena Ferrante entwickelt vor dem Hintergrund Italiens der Nachkriegszeit eine komplexe Freundschaft zwischen zwei sehr unterschiedlichen Mädchen/Frauen, die trotz einiger Klischees nie abgedroschen ist. Dafür sorgt allein schon die faszinierende Figur der Lila. Das willensstarke Mädchen mag sich nicht gegen die ihr vorgezeichnete Zukunft auflehnen können, doch sie lässt sich nicht verbiegen.
Sie bietet ihrem Vater und später ihrem Ehemann Paroli, auch wenn das mit Gewalt beantwortet wird. Ebenso wenig lässt sie sich für die Zwecke der mafiaähnlichen Solara-Brüder einspannen, die im Viertel das Sagen haben. Lenu beobachtet diesen immerwährenden Kampf ihrer Freundin mit hilfloser Faszination. Aus ihrer Perspektive erleben wir das Geschehen. Das stille Mädchen wird durch Lilas Genialität, die sie nie erreichen wird, zu Höchstleistungen angespornt. Sie macht an ihrer statt eine akademische Karriere und schafft schließlich den Sprung aus dem Rione.
Jeder Band bekommt eine Staffel
Doch zurück zur HBO-Serie: Sie besteht derzeit aus zwei Staffeln mit jeweils acht Episoden. Jede Season umfasst dabei einen Roman. Läuft alles nach Plan, ist die Geschichte nach vier Staffeln auserzählt. Staffel 1 behandelt die Kindheit der Freundinnen, bis zu Lilas Heirat aus "Meine geniale Freundin", Staffel 2 den Nachfolger "Die Geschichte eines neuen Namens", an dessen Ende Lila eine alleinerziehende Mutter ist. Eine dritte Staffel, die "Die Geschichte der getrennten Wege" zum Inhalt hat, ist bereits bestätigt. Und ich hoffe doch sehr, dass auch der vierte und letzte Roman "Die Geschichte des verlorenen Kindes" verfilmt wird. Aber man weiß nie ...

Serienschöpfer Saverio Costanzo ("Die Einsamkeit der Primzahlen") setzt auf eine ruhige, unaufgeregte Erzählweise wie in den Büchern, in deren Rahmen die Figuren Raum haben, sich zu entfalten. Zwar fehlt der Serie zu weiten Teilen der erzählerische Unterbau der Romane – Lenus Erzählerstimme wird mir fast zu wenig genutzt. Die talentierten Hauptdarstellerinnen gleichen das jedoch wieder aus.
Produktion setzt auf italienischen Cast
Besonders hervorzuheben sind Gaia Girace und Margherita Mazzucco, die Lila und Lenu als Teenager und junge Frauen spielen. Sie transportieren den Hass, das Leid, die Eifersucht mit wenigen Blicken und machen das Leben im Rione so real. Von Girace und Mazzucco werde ich in Staffel 3, in der früher oder später ein Zeitsprung notwendig wird, sehr ungern Abschied nehmen.

Hier muss ich betonen, wie dankbar ich bin, dass die Serie von HBO nicht einfach mit englischsprachigen Darstellern inszeniert wurde. Auch wenn ich sicher bin, dass der US-Sender auch daraus hätte einen Treffer machen können. (Ähnliches glückte bei der Konkurrenz beispielsweise bei der italienischen Koproduktion "Medici"). Doch die italienischen Darsteller und Schauplätze fügen der Serie einen Realismus und eine Authentizität hinzu, der ihr gut zu Gesicht steht.
50 Figuren bevölkern den Rione
Auch der Nebencast leistet gute Arbeit. Leser der Bücher kennen das umfangreiche Figurenensemble der Romane. Bis zu 50 Charaktere beleben den Rione, Pisa und die wenigen anderen Schauplätze der Handlung. Schon beim Lesen hatte ich oft Mühe, mich zu erinnern, wer jetzt noch mal konkret Gigliola war und in welchem Verhältnis sie zu den anderen Personen steht. Die Serie macht es leichter, den Überblick zu behalten, da man bildlich jemanden vor Augen hat.

Zumindest bis nach einem Zeitsprung wieder der komplette Cast ausgetauscht wird und man wieder etwas schwimmt. In diesen Momenten können Leser der Romane einen besseren Überblick behalten. Erfreulicherweise bleibt der Cast zumindest in Staffel 2 durchgehend derselbe. Sie zeigt den Übergang der jungen Frauen ins Erwachsenwerden.
Mein einziger Kritikpunkt an der Serie: Der Rione wirkt zuweilen zu unbelebt und clean als Schauplatz der Serie. Da liegt kaum Müll auf der Straße, das Elend wird mehr vorausgesetzt, als erfahrbar gemacht.
Fazit: Ansehen!
Egal, ob Du die Romane gelesen hast oder nicht: Die Serie "Meine geniale Freundin" lohnt sich. Sie zeigt eine faszinierende Frauenfreundschaft, die in ihrer Universalität zeitlos ist, jedoch stark von den Umständen bestimmt wird, in denen die Mädchen und später Frauen aufwachsen und leben. Wer die Geduld mitbringt und sich auf die Coming-of-Age-Serie einlässt, wird mit einem vielschichtigen Drama belohnt, das über ein ganzes Leben reicht. Bleibt bloß zu hoffen, dass die Serie am Ende die komplette neapolitanische Saga umfassen wird. Aber ich bin zuversichtlich.