London calling! "Watch Dogs Legion" macht die britische Hauptstadt zum dystopischen Polizeistaat und mich zum Widerstandsgeist im Kopf ihrer Bewohner: Fast jeder Passant auf der Straße ist spielbar, die ganze Stadt mein Hacker-Sandkasten. Ob das ambitionierte Konzept aufgeht, verrät unser Test.
- London in den Fängen des Faschismus
- Passanten anquatschen für den Widerstand
- Puzzeln wie ein Technik-Magier
- Die wichtigste Mechanik hat Motivations-Schwächen
- Gelungen: London als Open World
- Dystopie-Schocker als Kulisse
- Typisch Ubisoft: Systeme über Systeme ...
- Fazit
"Watch Dogs Legion" beginnt, wie ein Agenten-Thriller in London beginnen muss: mit einem Sprengstoffanschlag auf das Parlament nach dem Vorbild des berühmten "Gunpowder Plot". Als Agent der Untergrund-Hackergruppe DedSec komme ich dem geplanten Angriff auf das Parlament und weitere Gebäude im Tutorial auf die Schliche und finde Unerhörtes heraus: Die Unbekannten, die das Herz der britischen Demokratie hochjagen wollen, wollen die Untat DedSec in die Schuhe schieben! Kurz wirkt es, als könne ich das Schlimmste noch verhindern – doch dann gehen die Bomben doch hoch.
London in den Fängen des Faschismus
Was danach passiert, präsentiert mir das Spiel im Zeitraffer: Die Regierung überträgt die Sicherheit des Landes an ein privates Unternehmen namens Albion. Dessen Söldner sorgen mit Drohnen und anderer Hightech-Ausrüstung für, nun, "Ordnung": Sie verwandeln London über Nacht in einen faschistischen Polizeistaat und jagen alle, die ihnen quer kommen – unter dem Vorwand, den Frieden zu wahren und die Menschen vor den Terroristen von DedSec zu schützen. Mein Ziel als Teil der Widerstandsgruppe ist klar: aufrappeln, herausfinden, wer wirklich hinter dem Attentat steckt, den Ruf von DedSec wieder aufbessern und die unterdrückte Bevölkerung von Albion befreien.

Hier setzt "Watch Dogs Legion" mit einem Aufsehen erregenden Konzept an: Eine feste Hauptfigur gibt es nicht. Ich spiele, gewissermaßen, ganz London: Zu Beginn wähle ich aus einem guten Dutzend Personen meine erste Spielfigur aus, reaktiviere das Hauptquartier von DedSec in einem geheimen Tunnel hinter einem Pub sowie DedSecs Anführer, eine sarkastische Künstliche Intelligenz namens Bagley. Danach starte ich den Kampf gegen Albion – und rekrutiere Mitstreiter.
Passanten anquatschen für den Widerstand
Auf der Straße kann ich jederzeit NPCs ansprechen und sie fragen, ob sie bei DedSec mitmachen wollen – vorausgesetzt, sie sind mir generell wohlgesonnen. Anschließend folgt eine kleine Quest, in der ich typischerweise die persönliche Leidensgeschichte des Neuzugangs mit Albion aufarbeite: Ich lösche zum Beispiel inkriminierendes Material von Servern, rette Verwandte aus den Fängen der Söldner oder beschaffe dringende Medikamente. Danach finde ich die Person im Hauptquartier und kann jederzeit die Kontrolle über sie übernehmen.

Alle Figuren haben in "Watch Dogs Legion" eigene Fähigkeiten und Perks. Die Bauarbeiterin in meinem Team kann etwa riesige Drohnen zu Hilfe rufen und darauf herumfliegen. Eine andere Londonerin ist sportlich, hält im Kampf mehr aus. Ein älterer Herr ist privat versichert – das kommt verletzten Teammitgliedern zugute. Anwälte verkürzen die Knastzeit meiner Mitstreiter, falls mal jemand verhaftet wird. Manche Figuren haben auch eine besonders starke Waffe im Rucksack, ein cooles Agenten-Gadget oder eine Uniform, mit der sie sich in Feindesgebieten frei bewegen – welche Figur ich wähle, beeinflusst daher maßgeblich, wie ich an eine Mission herangehe.
Puzzeln wie ein Technik-Magier
Alle können außerdem natürlich das, was die "Watch Dogs"-Reihe ausmacht: hacken. Das Kapern von Kameras, Drohnen und kleinen Spinnenrobotern per Hightech-Smartphone macht den weitaus größten Teil der Interaktionen in "Watch Dogs Legion" aus. Auf diese Weise kundschafte ich Einsatzgebiete aus, überlade Stromkästen, die nahe Wachen außer Gefecht setzen, oder beschaffe mir Zugangscodes, um Türen und Server zu öffnen. Missionen haben dadurch einen großen Puzzle-Anteil: Oft kann ich ein Gebiet schon weitgehend räumen, ohne es überhaupt zu betreten, indem ich gekonnt von Gerät zu Gerät skippe.

Das Spiel vermittelt dabei sehr gut das Gefühl, ein mächtiger Hacker zu sein und die feindliche Technik dem eigenen Willen zu unterwerfen. Idealerweise habe ich alle Gefahren schon deaktiviert, wenn ich ein Gebäude betrete, um nur noch den letzten nötigen Handgriff persönlich vorzunehmen. Statt heimlich vorzugehen kann ich mich aber auch jederzeit für Waffengewalt entscheiden. Dann mutiert das Stealth-Spiel zum ordentlichen Cover-Shooter – Wahlfreiheit bei den Mitteln ist also gegeben. Auf Dauer fällt allerdings auf, dass die Bausteine, aus denen Begegnungen zusammengesetzt sind, nach wenigen Spielstunden etabliert sind und sich dann bis zum Schluss in nur leicht variierter Form wiederholen. Etwas Auflockerung bieten gelegentlich eingestreute Minigame-Passagen, in denen ich kleine ferngesteuerte Drohnen durch enge Schächte manövriere.
Die wichtigste Mechanik hat Motivations-Schwächen
Mit der Zeit stellt sich leider heraus, dass die Kern-Mechanik des Spiels – das Steuern jeder beliebigen Figur – oft mehr Gimmick als Notwendigkeit ist. Ich habe das Spiel fast ausschließlich mit drei Charakteren bestritten und nicht das Gefühl gehabt, etwas zu verpassen. Neue Figuren zu rekrutieren kostet Zeit, da jedes Mal eine Quest daran hängt. Die wichtigsten Fähigkeiten beherrschen ohnehin alle Charaktere gleichermaßen – und wenn ich etwa eine Drohne brauche, muss ich nicht unbedingt eine dabeihaben, sondern kann mir meist auch eine per Hack aus der näheren Umgebung klauen.

Welche Skills für eine Mission nützlich wären, weiß ich dazu oft erst, wenn ich mittendrin bin. Dringe ich mit meinem kaum bewaffneten IT-Spezialisten in ein Haus ein und entbrennt plötzlich ein in den Einsatz geskriptetes Feuergefecht, hilft es mir nicht viel, dass in meinem Team-Versteck auch ein tougher Söldner mit Kalaschnikow und Granatwerfer sitzt – spontan zu Hilfe holen kann ich den nämlich nicht. Da hilft es nur, durchzuhalten oder umständlich zu fliehen, den Agenten zu wechseln und erneut ins Missionsgebiet einzusteigen. Ich entscheide mich meist fürs Durchhalten und nutze die Rekrutierungs- und Wechsel-Mechaniken fast nur, wenn das Spiel sie an einigen wenigen Stellen verpflichtend in die Kampagne einbaut.
Gelungen: London als Open World
Die Orte, an denen ich meine Künste zum Einsatz bringen darf, sind wieder Ubisoft-typisch als gegnerische Lager in die Open World eingebettet. Für die Spielwelt haben die Entwickler London beeindruckend nachgebaut: Wer die Stadt kennt, erkennt eine ganze Menge wieder. Vor allem die großen, bekannten Gebäude und Sehenswürdigkeiten fallen detailgetreu aus. In, auf und an ihnen finden natürlich die wichtigsten Missionen des Spiels statt.

Abseits davon wirkt die Stadt dank Tag-Nacht-Wechsel und unterschiedlichem Wetter wunderbar lebendig – ob auf Einkaufsstraßen, in den vielen Parks oder bei Abendspaziergängen an der Themse, die die Lichter der Metropole zur Geltung bringen. Ich kann nur empfehlen, die Kampagne zwischen zwei Missionen mal Kampagne sein zu lassen und auf einem gehackten Lieferroller (oder einem anderen der Dutzenden verschiedenen Fahrzeuge) zu den Klängen von "Football's Coming Home" durch die Innenstadt zu brettern.
Ablenkung in der Open World gibt es auch sonst reichlich: Ich kann mich in Pubs betrinken oder Dart spielen, kleinere Sabotageakte gegen Albion ausführen, Graffitis sprühen, Propagandabanner umprogrammieren, Geld und Upgrade-Punkte finden, kleinere Nebenmissionen absolvieren, Pakete ausliefern, meine Spielfiguren umfassend neu einkleiden und vieles mehr. Mit einigen speziellen Nebenmissionen steigere ich DedSecs Ansehen in den acht Bezirken Londons so weit, dass die Bewohner irgendwann rebellieren – dann bekomme ich Zugriff auf eine Spezial-Mission pro Bezirk und bei deren Abschluss einen besonders guten Charakter für mein Hacker-Team. Die Bezirksmissionen sind besonders gelungen, spielen sich um die größten Wahrzeichen Londons herum ab und fallen abwechslungsreicher aus als viele Hauptmissionen.

Dystopie-Schocker als Kulisse
Folgt man vor allem der Story, verkommen der Kampf gegen Albion und die Suche nach den Drahtziehern der Sprengstoffattentate leider schnell zu einer etwas atemlosen Hatz durch London – die Stadt wird zur Kulisse. Das liegt auch am Plot-Monstrum, das "Watch Dogs Legion" entfesselt: Ich komme gleich fünf parallel verlaufenden Verschwörungen auf die Spur, die alle miteinander verwoben sind. Am Ende fügt sich zwar alles halbwegs schlüssig zusammen, besonders einfallsreich erzählt ist die Story aber nicht, und auch die beteiligten Figuren sind blass und plump charakterisiert. Aber die Geschichte hält mich bei der Stange und baut genug Spannung auf, dass ich den Whodunit um die Anschläge auch lösen will.

Thematisch hangelt sich das Spiel an der Realität und an Visionen für die nahe Zukunft entlang: Populistische Propaganda, gläserne Bürger, Techno-Faschismus, Kriegsführung mit Künstlicher Intelligenz, Unsterblichkeit in der Cloud, Sklaventum und Menschenhandel, desaströse Menschenrechtsverletzungen in Flüchtlingslagern, kaputtgesparte Gesundheitssysteme und das alles in London, dem Brexit-gebeutelten Aushängeschild für totale Überwachung des öffentlichen Raumes – "Watch Dogs Legion" präsentiert mir ein riesiges Potpourri aus Dystopie und unangenehm nah aus der Wirklichkeit entlehnten Motiven.
Als Satire hat das Spiel aber zu wenig Biss, drückt mich meist plump mit der Nase in einen Themenpunkt und wirkt insgesamt mehr daran interessiert, eine möglichst schockierende Kulisse zu errichten, als eine echte Haltung zu entwickeln – zumindest abseits von moralischen Minimalstandards à la "Menschen zu foltern ist böse". Sich explizit politische Stoffe zu schnappen und daraus vermeintlich "neutrale" Action-Sandkästen zu basteln hat bei Ubisoft aber Tradition – mag sein, dass das meinen Blick auf das kritische Potenzial etwas trübt. Immerhin: Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ich mit DedSec exakt die aufmüpfigen Widerständler spiele, die ich in Ubisofts Tom-Clancy-Spielen sonst scharenweise über den Haufen ballere.

Was "Watch Dogs Legion" vor diesem Hintergrund – bewusst oder unbewusst – beklemmend gut gelingt, ist die Schilderung von Unterdrückung als Normalzustand. Faschismus muss kein dauerhafter Reichsparteitag mit Uniformen und Flaggen sein. Es kann auch ein sonniger Tag in einer Londoner Einkaufsstraße sein, durch die Passanten bummeln – und plötzlich ziehen gepanzerte Truppen mit Maschinenpistolen willkürlich Menschen aus der Menge, schlagen sie zusammen und führen sie ab, während die Umstehenden hilflos bis gleichgültig zusehen und sich vor den Überwachungsdrohnen wegducken. Szenen wie diese gibt es in "Watch Dogs Legion" ständig, und es ist eine der kleinen Freuden des Open-World-Gameplays, die Albion-Agenten gezielt so abzulenken, dass die Verhafteten fliehen können.
Typisch Ubisoft: Systeme über Systeme ...
Ganz so bedrückend, wie "Watch Dogs Legion" seine Dystopie-Atmosphäre erzählerisch ausrollt, will sie leider trotzdem nicht aufkommen. Das liegt vor allem daran, dass die Gameplay-Systeme überdeutlich als Systeme erkennbar sind. Greife ich etwa Albion-Agenten in der Open World an, steigt mein "Gesucht"-Level wie in "GTA", es lässt sich aber auch leicht wieder senken. Die eh nicht sonderlich hellen Wachen tun dann so, als sei nichts gewesen.

Weil meine Spielfigur qua System austauschbar ist, mangelt es ihr zudem an Charakter – und allen anderen Einwohnern Londons auch. Unterhaltungen zwischen meinem Agenten und Menschen auf der Straße sind gespickt von seltsamen Momenten, die unter anderem daraus entstehen, dass das Spiel Gespräche prozedural aus Versatzstücken zusammensetzt. Anders wäre die Sprachausgabe bei so vielen potenziellen Spielfiguren wohl kaum lösbar, trotzdem haben die Dialoge maximal Laientheater-Qualität und wirken unglaubwürdig. Im englischen Original ist immerhin die Sprachausgabe gut und mit Dutzenden verschiedenen Stimmen für die verschiedensten spielbaren Charaktere bemerkenswert aufwendig realisiert. Auf Deutsch ist "Watch Dogs Legion" fast durchgängig unfreiwillig komisch.
Fazit
"Watch Dogs Legion" gibt sich redlich Mühe, Ubisofts etwas verkrustete Open-World-Formel mit seiner dezentralen "Spiele, wen Du willst"-Idee aufzubrechen. Das innovative Feature ist auf jeden Fall beeindruckend und schlüssig umgesetzt, zum Durchspielen aber nicht so zwingend notwendig wie erhofft. Parallel zur Kampagne und danach lädt es aber zum Experimentieren ein – und dann macht das virtuelle London als Hacker-Sandkasten jede Menge Spaß.
Das hat mir gut gefallen | Das hat mir weniger gefallen |
+ Innovatives Charakterwechsel-Feature | - Charakterwechsel-Feature zum Spielen nicht zwingend notwendig |
+ Viele Möglichkeiten, an Probleme heranzugehen | - Story und Charaktere eher zweckmäßig |
+ London als Open World mit vielen Aktivitäten | - teils wacklige PC-Performance |
+ Aufwendige englische Synchronfassung | - Mäßig gelungene deutsche Sprachfassung |