Stell Dir vor, Du überlebst nur knapp einen außerirdischen Terror-Angriff, der drei Millionen Menschen das Leben kostet. Wahrscheinlich wärst Du für den Rest Deines Lebens schwer traumatisiert, oder? So geht es auch Wade Tillman alias Looking Glass in der aktuellen "Watchmen"-Folge. Wir blicken endlich hinter seine spiegelnde Maske – und sehen einen einsamen, verängstigten Mann. Und: Der Plot spitzt sich allmählich zu.
- Ist das der Anfang vom Ende?
- Die Apokalypse ist ein Alien
- Ein Trauma, das man nicht mehr los wird
- Praktisch: Erinnerungen in Pillenform
- Ein Fake im Fake
- Nur Mond ist auch öde: Ozymandias will weg
- Fazit: The Times They Are a-Changin'
- Was mir sonst noch aufgefallen ist
Ist das der Anfang vom Ende?
Episode 5 mit dem englischen Original-Titel "Little Fear of Lightning" ist vermutlich meine bisherige Lieblingsfolge von "Watchmen". Nicht nur, dass wir (und so muss man das in diesem Fall nennen) die "Entstehungsgeschichte" von Looking Glass erfahren, so langsam steuert der Plot auf ein Finale zu, das möglicherweise apokalyptisch wird. In jedem Fall aber wird bald nichts mehr so sein, wie es vorher war.
Für mich zementiert "Watchmen" in dieser Woche ihren Ruf als sperrigste, herausforderndste und aufregendste Serie, die man derzeit gucken kann. Vergiss "The Mandalorian": Das hier ist Event-Fernsehen.
Dass Wade Tillman, der Verhörspezialist mit der verspiegelten Maske und der Vorliebe für kalte Bohnen, emotional angeknackst ist, war ja eigentlich schon seit seiner ersten Szene klar. Aber in dieser Woche erfahren wir endlich, was ihn in die selbst gewählte Isolation getrieben hat: Der Alien-Angriff von 1985, der auf einen Schlag drei Millionen Menschenleben auslöschte.

Die Apokalypse ist ein Alien
Der junge Wade, 1985 als christlicher Missionar im Sündenpfuhl New Jersey unterwegs, muss in nur wenigen Minuten zwei derbe Schicksalsschläge verdauen. Die fiese Punkerbraut Roxy stiehlt ihm seine Klamotten und lässt ihn splitternackt im Spiegelkabinett zurück. "You don't want to get nuked before you get fucked", haucht sie ihm zu, bevor sie den völlig verunsicherten Wade auszieht – und dann mit seinen Sachen verduftet. Doch Wade hat nur ein paar Sekunden Zeit, dieses erste sexuelle Trauma zu verarbeiten, denn ein durchdringendes Geräusch kündigt von noch größerem Unheil.
Der außerirdische Alien-Tintenfisch ist in New York gelandet und hat mit einer psychischen Schockwelle drei Millionen Menschen getötet. Als Wade nackt aus dem Spiegelkabinett torkelt, das die Psychowellen reflektiert und ihm so das Leben gerettet hat, steht er in einer Szene absoluten Grauens: Auf der Straße liegen tote Menschen, Dutzende, Hunderte, darunter auch Roxy, die ihn vor wenigen Augenblicken noch so gedemütigt hat.
In ihr verzerrtes Gesicht hat sich der Terror ihrer letzten Momente im Leben eingebrannt. "Was ist passiert? Was ist passiert?", schreit Wade immer wieder. Und wir sehen in einem atemberaubenden Shot das wahre Ausmaß des Horrors: das haushohe Alien, seine riesigen Tentakel in die umliegenden Gebäude gebohrt. Mir als Fan des Comics lief in der Szene ein kalter Schauer über den Rücken.

Ein Trauma, das man nicht mehr los wird
In der "Watchmen"-Welt war der Alien-Angriff auf New York das Äquivalent zum 11. September, potenziert mit 1000. Und das war einer meiner wenigen Kritikpunkte, die ich bislang an der Serie hatte – dass die Figuren diese apokalyptische Katastrophe nämlich ein bisschen zu gut wegsteckt haben.
Klar, ab und zu regnet's noch mal Tintenfische vom Himmel, aber so richtig schien es niemanden mehr zu jucken, dass in den 80ern ein riesiges Alien auf der Erde erschienen ist und innerhalb einer Sekunde drei Millionen Menschen umgebracht hat. Das Leben geht eben weiter. Aber nicht für Wade Tillman. Und so tragisch seine Geschichte ist: Der Serie tut es extrem gut, uns nochmals die kaum zu begreifende Ungeheuerlichkeit dieses schrecklichen Ereignisses klarzumachen.
Nein, Wade hat die Alien-Apokalypse absolut nicht verarbeitet. Er übt mit militärischer Präzision, im Notfall so schnell wie möglich in seinen strahlungssicheren Bunker zu kommen, und flippt fast aus, als seine Alien-Alarmanlage wegen extremer Beanspruchung den Geist aufgibt. Und endlich verstehen wir auch, warum er sich hinter einer spiegelnden Maske versteckt: Nicht nur, um sein Gegenüber einzuschüchtern und zu verunsichern. Die Maske besteht aus Reflectatine, einem Stoff, der (angeblich) strahlungssicher ist. Selbst sein Baseball-Cap hat er damit ausgekleidet. Looking Glass ist ein wandelnder Alu-Hut.

Wade Tillman ist ein Produkt der Angst und tief sitzender Traumata: Seine erste zarte sexuelle Erfahrung endete in einer Demütigung. Ist es da ein Zufall, dass er sich zum Essen eine harte, freudlose Sexszene mit den Original-Minutemen Hooded Justice und Captain Metropolis anschaut? Hooded Justice, der mysteriöse Henker mit der dunklen Vergangenheit, wird in dieser Folge wieder auffällig unauffällig in den Mittelpunkt gerückt, wenn auch nur für ein paar Sekunden. Da kommt noch was, da bin ich ziemlich sicher.
Praktisch: Erinnerungen in Pillenform
Aber erst mal kommt Looking Glass in Lauries Büro, die sich unsensiblerweise nicht mal die Mühe gemacht hat, das Namensschild ihres ermordeten Vorgängers Judd Crawford vom Schreibtisch zu nehmen. Sie provoziert Looking Glass, indem sie ihn fortwährend "Mirror Guy" nennt. Lauries Herabwürdigung eines maskierten Vigilanten rührt aus ihrer eigenen Geschichte: Sie selbst rannte vor 30 Jahren im Kostüm durch die Gegend und kam sich dabei stark vor, unbesiegbar und über dem Gesetz stehend.
Doch all das endete mit dem Alien-Angriff auf New York, den ihr ehemaliger Kollege Ozymandias alias Adrian Veidt inszenierte. Da kann Laurie noch so sehr die Abgebrühte spielen: Das hat ihr Selbstbild schwer erschüttert. Und diese Verletzung fügt sie nun auch Looking Glass zu. In "Watchmen" werden traumatische Erfahrung nicht verarbeitet, sie werden weitergegeben.

Looking Glass soll seine Kollegin Sister Night ans Messer liefern. Die wiederum wartet immer noch auf die Laborergebnisse bezüglich der ominösen Pillen in Wills Wagen. Ein Besuch bei Wades Ex-Frau bringt Klarheit: Es handelt sich um Nostalgia-Pillen, mit denen man die Erinnerungen eines anderen Menschen erleben kann. Doch wer sich da wessen Erinnerungen eingepfiffen hat, werden wir nicht mehr erfahren, denn Sister Night schluckt sie allesamt, als sie wegen Vertuschung einer Straftat verhaftet wird. Das führt ziemlich sicher nicht nur zum Bruch zwischen ihr und Looking Glass, das kann auch nicht gesund sein. Möglicherweise sehen wir sie in der nächsten Folge als sabberndes Psychowrack in der Krankenstation.
Ein Fake im Fake
Wade Tillman hat momentan einfach kein Händchen mit den Frauen. Denn auch die fesche Renee, die sich eines Abends in seine Alien-Trauma-Selbsthilfegruppe verirrt und ihn beim Bier danach heftig anflirtet, spielt nur ein falsches Spiel mit ihm. Sie ist ein Mitglied der Seventh Kavalry und lockt Wade in deren geheimen Stützpunkt, aus dem sie die gefakten Bekennervideos aus der Kirchen-Kulisse versenden. Doch das ist es nicht, was Wade so aus dem Konzept bringt, sondern ein Basketball, der immer wieder aus dem Nichts auftaucht. Die Kavalry experimentiert mit Portalen – und beim Alien-traumatisierten Wade schrillen die Alarmglocken.
Wer dem immer ein bisschen zu glatten Senator Joe Keene Jr. nicht über den Weg getraut hat, der sieht sein Misstrauen in dieser Folge bestätigt: Er ist der heimliche Anführer und Drahtzieher hinter der Seventh Kavalry. Zusammen mit Judd Crawford hat er die maskierten Faschisten kontrolliert und in Schach gehalten; jedenfalls behauptet er das. Und dann zieht er Wade endgültig den Boden unter den Füßen weg.

Er zeigt ihm Adrian Veidts aufgezeichnetes Videogeständnis, das bestätigt, dass er für den Alien-Angriff auf New York verantwortlich war und aktiv daran mitgearbeitet hat, den liberalen Robert Redford zum Präsidenten zu machen. Endlich kennt Wade die Wahrheit: Es war alles nur eine Lüge. Sein Trauma, seine Angst, seine daraus resultierende Einsamkeit – Kollateralschäden für das große Ganze. Was zählt schon ein zerstörtes Leben gegen die ganze Welt?
Ob Wade an dieser Erkenntnis zerbricht oder sein gesamtes Leben neu ordnet, sehen wir in dieser Woche nicht mehr. Dafür aber ein Unheil verheißendes Bild: Die Seventh Kavalry ist ihm bis nach Hause gefolgt. Und sie ist schwer bewaffnet. Oh-oh.

Nur Mond ist auch öde: Ozymandias will weg
Ich lobe mich ja nur ungern selber, aber da habe ich im Recap letzte Woche den richtigen Riecher bewiesen: Adrian Veidt alias Ozymandias ist tatsächlich auf dem Mond! Okay, nicht auf dem Erdenmond, sondern auf Jupiters Mond Europa, aber das lass' ich jetzt mal gelten. Wie von mir vermutet, unternimmt er mit seinem Do-it-yourself-Raumanzug einen kleinen Spaziergang – und formt aus den gefrorenen Leichen seiner geklonten Diener die Nachricht "Save Me D". Und an wen kann die sich richten? Natürlich nur an Dr. Manhattan, der mutmaßlich immer noch auf dem Mars rumhängt.
Der größte Massenmörder der Geschichte und ein allmächtiges Superwesen, das diesen millionenfachen Mord nicht verhindert hat, werden ziemlich sicher bald aufeinandertreffen. Ist das alles Teil des ominösen Plans, von dem Will Abar und Lady Trieu letzte Woche sprachen? Oder setzen sich hier Dinge in Bewegung, die nicht mehr zu kontrollieren sein werden? So oder so: Wir bewegen uns langsam auf etwas Großes zu. Ich kann die nächste Folge kaum erwarten.

Fazit: The Times They Are a-Changin'
Nach der etwas kraftlosen letzten Folge gibt "Watchmen" endlich wieder Gas – und schafft das Kunststück, den Blick zurück auf die Ursprünge eines Charakters zu werfen und gleichzeitig den Plot voranzutreiben. So ganz können wir das bizarre Puzzle immer noch nicht zusammensetzen. Aber diesmal wirft die Serie wenigstens nicht ein halbes Dutzend neuer Fragen auf, sondern liefert endlich ein paar Antworten. Außerdem hat die Dynamik innerhalb der Figurenkonstellationen jetzt den Punkt ohne Wiederkehr erreicht: Der Riss zwischen Looking Glass und Sister Night ist kaum noch zu kitten.
Tick-tock. Tick-tock. Tick-tock. Die Uhr tickt.

Was mir sonst noch aufgefallen ist
- Das Design der asiatisch angehauchten Straßengang vom Anfang ist exakt so dem Comic entnommen. Man kann nicht behaupten, die "Watchmen"-Serie würde nicht auch kleinste Details beachten.
- Ein Mord, der alles ins Rollen bringt. Ein vermeintlich guter Charakter, der einen Anschlag auf sein Leben inszeniert, um sich das Vertrauen seiner Mitmenschen zu ergaunern. Ein gigantisches Geheimnis, das im Zentrum von allem steht. Und es gibt immer noch Leute, die meckern, die "Watchmen"-Serie hätte nichts mit der Vorlage gemein? Sehen die eine andere Show als ich?
- Es ist faszinierend, was man aus der George-Michael-Schnulze "Careless Whisper" machen kann.
- Als Mega-Fan der HBO-Serie "The Sopranos" habe ich mich extrem über den Mini-Auftritt von Michael Imperioli gefreut, der sich als Christopher Moltisanti unsterblich gespielt hat.
- Die Behälter auf dem Truck der Kavalry tragen das Logo von Trieu Industries. Was immer Lady Trieu plant, sie hat dafür offenbar die Kavalry rekrutiert.
- Steven Spielberg hat hier nicht "Schindlers Liste" gedreht, sondern "Pale Horse", benannt nach der Band, die in der Nacht des Alien-Angriffs spielte, und zwar auch in schwarz-weiß. Und darin auch die Szene mit dem kleinen Mädchen im roten Kleid verbaut. Alter Schwede, "Watchmen" hat echt balls of steel.
- Der fantastische Kalauer "Call it a squid pro quo" hat mich laut auflachen lassen. 10/10-Gag.