Wie Iron Man: Biohacking statt Normprothese

Der Carbon-Arm von James Young ist der "Metal Gear Solid"-Figur Naked Snake nachempfunden.
Der Carbon-Arm von James Young ist der "Metal Gear Solid"-Figur Naked Snake nachempfunden. Bild: © Omkaar Kotedia 2016

Sophie de Oliveira Barata fertigt Prothesen, die nicht Körperersatz, sondern Teil der Persönlichkeit sein sollen. Und das erfordert neben Handwerk manchmal ganz schön viel Technik.

Am Anfang wollen die meisten Männer Iron Man sein. Oder RoboCop. Frauen orientieren sich eher an Fantasyheldinnen. "Ich habe deswegen eine Menge Anfragen", sagt Sophie de Oliveira Barata, Maskenbildnerin, Universität der Künste London, eigentlich spezialisiert auf Film und Fernsehen, wirklich spezialisiert auf die Herstellung von Prothesen. In der Werkstatt ihrer Firma Alternative Limb Project im Norden Londons, aufgeräumt, mehr Arztpraxis als Handwerksbetrieb, fertigt sie aus dünnen, transparenten Schichten von verklebtem und gebranntem Silikon Teile menschlicher Körper: Beine, Hände, Finger, Unterarme, mit Narben, Härchen, Muttermalen – so realistisch, dass es aussieht, als habe sie Körperteile in ihrer Werkstatt gelagert. Aber eben nicht nur.

Was sie auch macht: Beinprothesen aus Diamanten. Arme, in denen eine Drohne steckt. Beine, die aussehen wie ... na ja, die von RoboCop eben. Das Ziel: "Du sollst nicht sehen, was fehlt. Du sollst sehen, was da ist." Nicht weil das modisch sei, sondern weil es der Therapie helfe. Kunden, sagt sie, sollten in die Entstehung der Prothese eingebunden sein. Wer mitgestalte, der akzeptiere und könne sich am Ende sogar auf seine Prothese freuen. Und so entsteht alles gemeinsam. Potenzielle Kunden müssen Bilder mitbringen, deren Atmosphäre sie mögen.

Dutzende, manchmal Hunderte. Daraus entstehen Vorschläge für den Look der Prothese. Und der soll manchmal eben metallisch sein. Oder an Naked Snake erinnern, die einarmige Hauptfigur des Spiels "Metal Gear Solid 5: The Phantom Pain". Ein Lieblingsspiel von James Young, 27, Brite. Als dieser mit 22 Jahren vor eine U-Bahn gefallen war und ein Bein und seinen linken Arm verloren hatte, designte de Oliveira Barata einen Arm nach Vorlage des Spiels, 86.000 Dollar, bezahlt von Konami, dem japanischen Hersteller der MGS-Reihe. De Oliveira Barata hatte per Ausschreibung auf ihrer Website nach einem Kandidaten gesucht und Young gefunden. Ein Werbegag für Konami, einerseits. Andererseits (fast) das Modernste, das es gerade gibt: Der Arm ist über Sensoren mit den Nerven und Muskeln der Schulter verbunden, sodass Young seine Roboterhand problemlos im Alltag benutzen kann. Selbst das Aufheben kleinster Gegenstände wie etwa Münzen ist kein Problem. Das Einzige, was der Arm nicht hat: eine Titanverbindung des Metalls direkt zum Knochen, das wäre technisch zwar möglich, gibt es in Großbritannien aber bisher nur für ehemalige Soldaten. Und das ist erst der Anfang: Weil zudem mittlerweile Elektroden direkt in das Gehirn gesetzt werden können, um neuronale Aktivitäten auszulesen und so Roboter zu steuern, und es außerdem erste Roboterhände gibt, die fühlen können, denken etwa die Amerikaner bereits über eine gesetzliche Regulierung der Hirn-Computer-Schnittstellen nach.

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Baratas Klientin Veronika Pete wollte den futuristischen Cyber-look tragen. Bild: © Omkaar Kotedia 2016

Young muss seinen Arm hin und wieder abnehmen, er wiegt fünf Kilo und muss regelmäßig gewartet werden. Aber als "Metal Gear Man" hält er jetzt Vorträge über Bionik und die Verbesserung des menschlichen Körpers durch Maschinen. Die Hand, sagt er, fühlt sich nicht mehr an wie eine Maschine. Sondern wie eine Hand, seine Hand. Prothesen von so hoher Akzeptanz zu fertigen hat de Oliveira Barata von Pollyanna gelernt. Das Mädchen war noch als Kleinkind von einem Bus überfahren worden und hatte dabei ihr rechtes Bein verloren.

Einmal im Jahr kam sie zu Sophie de Oliveira Barata in die Werkstatt: Das Kind wuchs, und die Prothese musste immer wieder erneuert werden. Eines Tages fragte Pollyanna, ob es nicht möglich sei, kleine Schweine auf der Prothese abzubilden, die Eis essen und Fahrrad fahren? Könne man die Prothese nicht als Teil ihres Lebens betrachten? Jedes Mal, wenn Pollyanna ins Studio zu de Oliveira Barata kam, war sie sehr aufgeregt und voller neuer Ideen. Nicht, weil sie das Gefühl hatte, eine neue Prothese zu bekommen. Sondern weil sie das Gefühl hatte, etwas Besonderes zu bekommen. Wie ein neues Kleidungsstück. Mode.

Es war die Zeit, in der Sophie de Oliveira Barata sich ständig mit Silikon beschäftigte. Sie formte und bemalte es und fragte sich: Was, wenn eine Prothese wirklich mehr wäre als ein Körperersatz? Ginge das überhaupt? Und dann baute sie sich Slipper in der Form ihrer nackten Füße. Eine Silikonkopie ihrer Haut als Schuh. Sie zog sie über die Socken und lief damit durch die Straßen. Und die Menschen konnten ihre Blicke nicht abwenden. Sophie de Oliveira Barata sah, was möglich ist. Fühlte, wie magnetisch Körperdesign wirken kann. Sie beschloss, die medizinische Notwendigkeit mit Kunst und Technik und der Individualität ihrer Träger zu kombinieren.

2011 gründete sie das Alternative Limb Project. Und fand Viktoria Modesta, lettische Sängerin, Model und beinamputiert. Modesta trägt bei ihren Auftritten seither Modelle von de Oliveira Barata. Das klingt wie "Sie trägt ein Kleid von Alexander McQueen". Und so ist das auch gemeint. Denn der Ansatz von de Oliveira Barata geht klar über die Funktionalität hinaus. Sexy soll es sein, zumindest besonders. Als Modesta bei der Abschlussfeier der Paralympics in London 2012 als Schneekönigin auftrat, lief sie auf einem Bein aus lauter Diamanten durch die Gegend. Sie besitzt außerdem ein Bein mit integriertem Soundsystem, eines mit Leuchtstoffröhre und dann noch eines, das an ein Insekt erinnert, Typ Gottesanbeterin.

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Young kann an seinem Kunstarm E-Mails, Tweets und sogar seine Herzfrequenz checken. Bild: © Omkaar Kotedia 2016

Das Image von Prothesen habe sich in den letzten Jahren verändert, sagt de Oliveira Barata, viele würden mittlerweile mit Stolz getragen, sich an den jeweiligen Stimmungen orientieren und Teil der Identität ihrer Träger werden. "Gerade meine Prothesen zeigen, dass man Kontrolle zurückgewinnt", so die Designerin. "Sie sind individuell und reflektieren, wer man ist." Streng genommen auch nichts anderes als bei einem T-Shirt oder einer Tätowierung. Im besten Fall, sagt de Oliveira Barata, seien ihre Prothesen sowohl eine Demonstration von Charakter als auch ein Zeichen der Rückgewinnung von Fähigkeiten. "Ich will keine große Firma sein. Ich will lieber die Vorstellungskraft der Leute verändern."

Und so kosten manche ihrer Prothesen 700 Pfund, andere 7.000. Manche dauern in ihrer Herstellung ein paar Tage, andere Monate. Und alles muss privat bezahlt werden. Denn das staatliche Gesundheitssystem NHS zahlt nur für Prothesen, die genauso aussehen wie die verlorenen Gliedmaßen – und schlimmer, denn der Metal Gear Man hatte am Anfang eine Prothese mit einem Haken. Dabei fertigt de Oliveira Barata ausschließlich Unikate, individuell angepasst nicht nur in Farbe und Form, sondern auch an den Stumpf. Im Moment arbeitet sie mit Modellen, die in einem 3D-Drucker erstellt werden. Neulich hatte sie einen Kunden, der ein Bein wollte, das auf den ersten Blick aussah wie ein Bein, aber es sollte aufgeschlitzt sein, sodass man auf den Knochen sehen kann. Wer genauer hinschaut, sollte entdecken, dass Alien und Predator im Bein einen Krieg auskämpfen, der leider auf Kosten des Beins geht. Es ist schön geworden.

Diese und weitere Geschichten findest Du auch in der aktuellen Ausgabe des TURN ON Magazins 04/16, das in allen SATURN Märkten kostenlos ausliegt.

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