Nach zwei Filmadaptionen wird Morton Rhues Roman "Die Welle" mit "Wir sind die Welle" erneut auf die Bildschirme gebracht – dieses Mal im Serienformat für Netflix. Aber braucht es eine Neuverfilmung überhaupt? Ob die deutsche Netflix-Produktion etwas taugt, erfährst Du in unserer Kritik.
- Leg Dich nicht mit Tristan an
- "Wir sind die Welle" ist aktueller als gedacht
- Klimawandel? Check! Tierquälerei? Check!
- Fazit
Leg Dich nicht mit Tristan an
Tristan (Ludwig Simon) ist neu am humanistischen Gymnasium in Meppersfeld und zieht schnell die Aufmerksamkeit seiner Mitschüler auf sich. Das liegt nicht nur an seinem Look, sondern auch an seinem Verhalten: Er ist ein Rebell, der sich vor allem für die Außenseiter einsetzt und es sogar mit der Nazi-Clique aufnimmt. Davon ist vor allem Lea (Luise Befort, "Club der roten Bänder") fasziniert. Sie stammt aus einem reichen Elternhaus, fährt mit E-Roller zur Schule und spielt Tennis – und damit das komplette Gegenteil von Tristan. Doch durch ihn fängt sie an, ihr Leben zu hinterfragen, und zieht ihre Konsequenzen daraus.
Tristans Anwesenheit beeindruckt auch andere Mitschüler: Zazie gilt am Gymnasium als sonderbarer Freak, weil sie bei ihrem Großvater lebt, während ihre Mutter in der Psychiatrie behandelt wird; Hagen, der zurückhaltende Sohn einer Familie, die ihren Lebensunterhalt durch Landwirtschaft bestreitet; Rahim, der Sohn libanesischer Eltern, der regelmäßig aufgrund seiner Hautfarbe diskriminiert wird. Gemeinsam gründen die Jugendlichen die Gruppe "Die Welle", die allerdings schnell eine gefährliche Eigendynamik entwickelt.
"Wir sind die Welle" ist aktueller als gedacht
All das klingt sehr nach dem Original, doch "Wir sind die Welle" schlägt einen etwas anderen Weg ein. Dennis Gansel, ausführender Produzent der Serie und Regisseur des Films "Die Welle" von 2008, erklärte im Vorfeld, dass sich die Netflix-Serie nur lose am Roman von Morton Rhue orientiert. Das zeigt sich allein darin, dass die Gruppe nicht aus dem Schulexperiment einer Lehrkraft hervorgeht, sondern von den Jugendlichen selbst ins Leben gerufen wird.

Außerdem geht es nicht um Faschismus, sondern um eine antikapitalistische Jugendbewegung. Und damit ist die Netflix-Serie aktueller als zunächst gedacht. "Wir sind die Welle" spricht Themen wie den Klimawandel, Rüstungsexporte, Tierhaltung in der Viehzucht, politischen Rechtsruck und Umweltverschmutzung an. Greta Thunbergs "Fridays for Future"-Bewegung lässt grüßen. Laut Gansel waren die Dreharbeiten zur Serie allerdings schon vor dem Aufkommen der Klimastreiks abgeschlossen. "Die Zeit hat uns eingeholt. Manchmal hängt man der Zeit hinterher, hier waren wir der Zeit voraus. Aber das alles kam nicht aus dem luftleeren Raum", erklärt Dennis Gansel im Interview mit Web.de.
Gansel und sein Team sind im Vorfeld in Schulen gegangen und haben dort gefragt, was die Jugendlichen von heute bewegt. "Nach diesen Gesprächen war relativ schnell klar, dass wir es mit einer anderen Jugend zu tun haben als 2006, als wir [das Drehbuch zum Film] 'Die Welle' geschrieben haben. Die Jugendlichen, mit denen wir uns jetzt unterhalten haben, waren sehr viel wacher, politischer, sie haben Fragen gestellt."
Klimawandel? Check! Tierquälerei? Check!
Es ist überraschend, wie aktuell "Wir sind die Welle" ist. Allerdings will die Netflix-Serie zu viel in ihren sechs Episoden. Es werden zu viele Themen auf einmal angesprochen, was die Motive der Figuren oberflächlich erscheinen lässt. Heute gehen sie gegen Tierquälerei vor, morgen nehmen sie es mit dem größten Waffenhersteller des Landes auf. Man wird das Gefühl nicht los, dass die Serienschöpfer all das, was die Jugendlichen heute bewegt, in "Wir sind die Welle" quetschen wollten. Dabei hätte es der Serie gutgetan, sich nur auf ein Thema zu fokussieren. Allein mit dem Thema Umweltschutz hätten die Folgen mehr als reichlich gefüllt werden können.
Die Auswirkung sozialer Medien wird ebenfalls nur angerissen. Am Rande wird gezeigt, dass sie für "Die Welle" wie ein Katalysator sind und deren Handlungen teilweise maßgeblich beeinflussen. Lea streamt jede Aktion im Internet, im Anschluss werden die Reaktionen analysiert. Auf diesen Aspekt hätte definitiv ein stärkerer Fokus gelegt werden sollen.

Zudem sind die Charaktere sehr klischeehaft gezeichnet: der Rebell, die reiche Göre, die Außenseiterin, der Ausländer und der super Schüchterne. Klar, das muss vielleicht so sein, um die Gruppendynamik zu verdeutlichen und zu zeigen, dass jeder von solch einer Bewegung mitgerissen werden kann. Etwas weniger Klischee hätte in meinen Augen aber ebenso funktioniert.
Fazit: Guter Ansatz, aber die Serie will zu viel
"Wir sind die Welle" richtet sich ganz klar an eine jugendliche Zielgruppe. Das macht sich darin bemerkbar, dass in der Serie zu viel Drama und Coming-of-Age im Fokus steht, und weniger die klare Gesellschaftskritik. Für sechs Folgen will "Wir sind die Welle" einfach zu viel, sodass vieles im Nebel der Willkürlichkeit verschwindet. Die Motive der Jugendlichen wirken zu oberflächlich, als wüssten sie selbst nicht, wofür sie wirklich stehen.

Der Ansatz von "Wir sind die Welle" ist gut und wichtig. Gerade in Zeiten wie diesen, in denen Themen wie Umweltschutz immer mehr Aufmerksamkeit bekommen und Bewegungen wie Fridays for Future oder (die etwas radikalere) Extinction Rebellion existieren. Allerdings darf die Serie gerne kritischer sein und den Finger tiefer in die Wunde legen. Lieber weniger Themen ansprechen, dafür aber von mehreren Seiten beleuchten. Oder unbequeme Fragen stellen wie: Wer von den Teilnehmern der Bewegung steht wirklich hinter den Idealen und wie viele sind nur Mitläufer?