Schmerz, Vergesslichkeit, Einsamkeit, Unwissenheit: alles Geißeln, die wir einfach nicht abschütteln können. Aber vielleicht mildern? Sieben Wissenschaftler und Jungunternehmer wollen den Feinden des Glücks an den Kragen. Ihre stärkste Verbündete: die technische Revolution.
Tschüss, Vergesslichkeit
Wer Game-Design in Düsseldorf studiert, lernt laut Uni-Website "als Concept Artist Figuren oder Spielumgebungen zu entwickeln oder diese als 2D oder 3D Artist zum Leben zu erwecken". Es geht also darum, es digital knallen zu lassen. Lukas Kuhlendahl, Beate Sucrow, Janos Wokrina und Dominica Wester haben sich im Design-Studium der Fantasiewelten kennengelernt. Kaum den "Bachelor of Science" im Sack wurde das Quartett von einem Krefelder Unternehmen angeheuert, um an 3D-Welten zu tüfteln. Weil das außerordentlich gut funktionierte, machte die Crew sich im Mai 2017 selbstständig.
Das Start-up arbeitete aber nicht an digitalen Funparks, die den Leuten helfen, ihren Alltag zu vergessen. Es entwickelte eine VR-Umgebung, um das Erinnerungsvermögen anzukurbeln. "Der Vater einer unserer Gründerinnen leidet an Demenz. Daher wussten wir, dass es in der Therapie um Erinnerungsarbeit anhand von Fotos und anderen Schnipseln der Vergangenheit geht. Wir haben uns gefragt, ob das nicht sinnlicher und lebendiger hinzukriegen ist", sagt Lukas Kuhlendahl, 26.

Mit VR-Brille gegen Alzheimer und Demenz
Bedarf gibt es allemal. Laut Alzheimer Gesellschaft steigt die Zahl der Demenzkranken in Deutschland kontinuierlich. 2004 waren etwa eine Million Menschen betroffen, aktuell sind es 1,6 Millionen. Für 2050 prognostizieren Experten gar eine Verdopplung auf rund drei Millionen Patienten. Und nicht alle haben Schuhkartons voller Fotos unterm Bett, die beim Erinnern behilflich sind.
14. September 2017, Pressekonferenz in der Helios Klinik Krefeld: Deutsche Presseagentur, SAT.1, WDR, Bild und Westdeutsche Zeitung sind angereist, um sich die VR-Animation "Krefeld im Wirtschaftswunder" anzuschauen. Wer die VR-Brille aufsetzt, findet sich mitten auf einer Krefelder Kreuzung wieder. Allerdings nicht 2017, sondern etwa 60 Jahre früher. Ein Goggomobil braust heran, Frauen tragen Pfennigabsätze und Wespentaille, die Verkehrslage ist insgesamt rührend überschaubar. Die VR-Anwendung haben Lukas Kuhlendahl und sein Team für das Krefelder Klinikum programmiert, um Demenz- und Alzheimerpatienten dabei zu helfen, Jugenderinnerungen aufzufrischen. Das Material, etwa 100 Aufnahmen der Kreuzung aus den 50er- und 60er-Jahren, wurde unter anderem per Facebook-Aufruf gesammelt.
Positive Erinnerungen verlangsamen die Krankheit
Funktioniert die virtuelle Gedächtnisstütze? Helios Chefarzt Friedhelm Caspers: "Man schlägt tatsächlich eine Brücke in die Gegenwart." Die Methode sei, so Susanna Saxl von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, bei sogenannter Biografie-Arbeit durchaus sinnvoll: "Dabei wird versucht, positive Erinnerungen und Lebensfreude zu wecken. Das kann den Krankheitsverlauf verlangsamen."
Zwar gebe es auch die Gefahr, die Patienten durch den schnellen Wechsel zwischen Realität und Fiktion zu verwirren. Doch gerade mit bewegungsgesteuerten Videospielen, wie sie das Hamburger Unternehmen RetroBrain R&D in der sogenannten "Memore Box" anbietet, konnten im Modellversuch in verschiedenen Altersheimen erstaunliche Erfolge erzielt werden. "Ein Spiel gegen das Vergessen, der Effekt ist erstaunlich", staunte der NDR in einem vor Ort gedrehten Feature. Unterstützt wird das vielfach prämierte Memore-Projekt unter anderem vom Arzt und Kabarettisten Eckart von Hirschhausen.

Das Start-up von Lukas Kuhlendahl und Co. heißt übrigens Weltenweber – passend zu Krefeld mit seiner Vergangenheit als Samt- und Seidenstadt. Das Erinnern wird, so Kuhlendahl, weiterhin Thema der Weltenweber bleiben. Derzeit arbeite man an einer App für das örtliche Kunstmuseum. Kinder können damit zwischen den Werken auf virtuelle Schatzsuche gehen. Und entdecken, dass nicht nur im Jetzt und Morgen Abenteuer lauern.
Tschüss, Unwissenheit
Was sagt es über einen 37-Jährigen aus, wenn er gern mit Superman-Basecap aufläuft? Okay, man kann wohl davon ausgehen, dass sein Ego nicht eben klein ist. Oder sein Humor besonders groß. Ein Revoluzzer-Barett à la Che Guevara würde zwar noch besser zu Ijad Madisch passen, doch die Heldenkappe geht schon in Ordnung für den Virologen, Informatiker und CEO von ResearchGate, dem "Facebook für Wissenschaftler". Das mediale Label ist nämlich viel zu klein und niedlich für eine Plattform, die die wissenschaftliche Welt revolutioniert hat – weltweit und in einer Rekordzeit von nur neun Jahren.
Um beurteilen zu können, welches Erdbeben Madisch losgetreten hat, muss man ins Innere des Elfenbeinturms klettern. Im ResearchGate-Gründungsjahr 2008 ist das Wissen der forschenden Weltelite noch so gut wie ausschließlich über elitäre Fachzeitschriften zugänglich. Eine Publikation in Titeln wie "Nature", "Cell" oder "Science" gleicht in den Naturwissenschaften einem Oscargewinn. Eine Heerschar von Gutachtern und strenge Editorial Boards fällen die Entscheidung, was ins Scheinwerferlicht der akademischen Welt rückt.
Soziales Wissenschaftsnetzwerk ohne Barrieren
Die Arbeiten kleinerer Forschungsgruppen mit niedrigem Budget oder auch misslungene Forschungsreihen, die dennoch auf genialen Ideen beruhen und andere Gruppen weiterbringen könnten, haben in diesem System keine Chance. Und: Die Universitätsbibliotheken haben teilweise horrende Gebühren an die Wissenschaftsverlage zu zahlen, um Zeitschriften mit Publikationen der eigenen Mitarbeiter abonnieren zu können. Vor zehn Jahren begann es lauter zu brodeln, man diskutierte Boykotte überteuerter Fachblätter. Die "Open Access"-Bewegung startete: Wissenschaftler schlossen sich zusammen, um für einen freien Zugriff auf Forschungsergebnisse zu kämpfen.

Richtig Speed in die Bewegung brachte allerdings erst Ijad Madisch mit seinen Mitgründern Sören Hofmayer und Horst Fickenscher. Das neue soziale Wissenschaftsnetzwerk ResearchGate kennt kaum Barrieren. Eine E-Mail-Adresse einer bekannten Forschungseinrichtung oder der Nachweis einer wissenschaftlichen Publikation reicht, um unter eigenem Profil alles zu teilen, was die Kollegen weltweit weiterbringen könnte: Fachartikel, Forschungsdaten, negative Ergebnisse, Patente, Pläne, Methoden, Präsentationen, Codes. Offene Schatzkisten, denen man folgen und deren Inhaber man direkt kontaktieren kann.
ResearchGate ist das aktivste akademische Netzwerk
Umfragen der Magazine "Nature" und "Times Higher Education" zufolge ist ResearchGate heute das aktivste akademische Netzwerk seiner Art. Was kein Zufall ist, denn Madisch ist Enthusiast und Perfektionist in Person. Der Mann, der 2013 persönlich bei Bill Gates eine mit 35 Millionen Dollar gefüllte Finanzspritze für ResearchGate akquirierte, programmiert die Lunch-App für seine Company selbst, feilt mehrmals wöchentlich an seiner Beachvolleyballtechnik, geht um null Uhr schlafen, um schon um drei Uhr kurz die ersten Mails von Investoren in anderen Zeitzonen zu checken.
Sein nächstes Ziel: der Nobelpreis. Damit wäre Madisch der erste Kandidat, der nicht für eine solitäre Erfindung den Preis einheimst, sondern für eine Kommunikationstechnologie, die der gesamten Branche zugutekommt. Warum denn nicht? Schließlich hätte auch niemand geglaubt, dass ein Mann in schimmerndem Bodysuit mit roten Stulpen und Operetten-Umhang die Welt retten könne. Und dann kam Superman.
Tschüss, Schmerz
Matthew Stoudt war Banker, aber irgendwann war ihm das zu wenig. Er wollte etwas Sinnvolles tun. Als er 2014 zum ersten Mal eine VR-Brille auf dem Kopf hatte, war er begeistert. Er fragte sich: Könnte diese Methode nicht Menschen dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern? Schließlich ist das Erlebte für das Gehirn real. Er sagt: "Es ist eine Sache, wenn Menschen etwas über das Risiko eines Verhaltens lesen, eine andere, wenn sie es fühlen."
Stoudt gründete AppliedVR, ein Unternehmen zur Virtual-Reality-Content-Produktion für therapeutische Zwecke. Er begann, zusammen mit dem Cedras-Sinai-Hospital in Los Angeles mit Schmerzpatienten zu arbeiten. Dabei kamen ihm die Erfahrungen mit sogenannten Health Games zugute.

Schmerztherapie mit Virtual-RealityContent
Bereits 1996 begann die University of Washington, in der Schmerztherapie mit der damals völlig unausgereiften VR-Technik zu experimentieren. Als "Snow World" schließlich 2003 programmiert wurde, war es das weltweit erste Spiel seiner Art: geschaffen ausschließlich zu dem Zweck, Schmerz bei Verbrennungsopfern zu reduzieren. Der Patient schießt vor einem kühlen, in Blautönen gehaltenen Hintergrund mit Schneebällen auf Pinguine, fliegende Fische, Schneemänner und Mammuts – das hilft selbst dort, wo Morphine nicht mehr gegen die Schmerzen ankommen, und senkt bei den anderen Patienten die Dosis um knapp 50 Prozent. Kein Wunder, dass das Spiel, aufgehübscht und verbessert, immer noch eingesetzt wird.
Die sogenannten Health Games sind mehr als Ablenkung. Weil sie dem Gehirn eine andere Realität vorspielen, eben eine virtuelle, verändern sie die Art und Weise, in der Schmerzsignale verarbeitet werden. "The same incoming pain signal can be interpreted as painful or not, depending on what the patient is thinking", schreibt die Universität Washington auf einer Webseite zum Thema. Durch eine andere Umwelt werde dasselbe Signal anders wahrgenommen.
Positive Wirkung ist nachgewiesen
Die Wirkung ist mittlerweile mehrfach belegt – auch durch Stoudt. Dabei lindern die virtuellen Welten nicht nur Schmerzen, sondern beugen auch Depressionen vor, helfen bei Angststörungen und Phobien. Zusammen mit einem Krankenhaus in Los Angeles führte Stoudt eine Reihe von Versuchen mit Patienten durch, die an Bluthochdruck litten. Sie sahen ihrem Körper zu, sahen, wie ihr Herz Schwerstarbeit leistete und ihr Blut floss.

Und in der Folge sank ihr Blutdruck um durchschnittlich sieben Prozent – nur, weil sie erlebten, was zu viel Salz mit ihrem Blutdruck und der wiederum mit ihrem Herz macht. Sie waren live dabei und änderten daraufhin ihre Essgewohnheiten. Weil das neben gesünderen Patienten auch sinkende Kosten im Gesundheitswesen bedeutet, arbeiten heute über 50 Krankenhäuser in den USA mit Programmen, die Stoudt mit AppliedVR zur Verfügung stellt.
Therapie von Phantomschmerzen
In einer Klinik im schwedischen Göteborg wird VR-basierte Technologie zur Behandlung eines Schmerzes eingesetzt, den es eigentlich gar nicht gibt. Bei Patienten mit Amputationen verschwinden Phantomschmerzen, wenn dem Gehirn vorgegaukelt wird, dass das verlorene Körperteil noch immer vorhanden ist. Es gibt nicht nur keine Nebenwirkungen, der Effekt hält auch länger an als bei rein medikamentöser Therapie. Generell sind Therapien in der virtuellen Realität meist leichter umsetzbar, billiger und besser kontrollierbar, zudem können sie individueller auf den Patienten abgestimmt werden.
Und auch die Patienten selbst können mithilfe der Datenbrille ihren Körper von innen erkunden, um etwas über die Krankheit zu lernen, mit der sie sich herumplagen. Das hilft bei der Verarbeitung, einer möglichen Heilung und Nachsorge. Stoudt sagt: "Wir geben den Patienten Empathie für sich selbst. Für die Zukunft."
Tschüss, Einsamkeit
Popkulturell ist die Liebe zu einem Rechner nichts Besonderes mehr: Bereits 2013 verliebte sich Theodore im Spike-Jonze-Film "Her" in Samantha, die Stimme eines Betriebssystems, das keinen Körper hat, aber seinen Geliebten trotzdem in Ekstase versetzt. Doch macht es uns nicht am Ende noch einsamer, wenn wir uns mit einer Maschine zusammentun oder uns schwindelig tindern, um ja Mr oder Mrs Right zu finden?
Für derlei Pessimismus hat Helen Fisher, Anthropologin, Senior Resarch Fellow am Kinsey Institute und laut "Spiegel" "eine der weltweit bekanntesten Liebesexpertinnen" nichts am Hut. Sie ist wissenschaftliche Beraterin der Datingsite Match.com, hat mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht und ist eine der weltweit bekanntesten Wissenschaftler ihrer Fachrichtung.

Heutzutage haben wir die Auswahl bei der Liebe
Datingwebsites seien, so Fisher, nicht das Übel, "they are introducing sites", lediglich Plätze, um sich einander vorzustellen. Treffe man sich nämlich, würde man sich genauso benehmen wie vor 100.000 Jahren, was beweise, dass der einzige Algorithmus, der die Liebe organisiere, derjenige in unserem Gehirn sei. Technologie werde das nicht ändern, das werde niemals passieren. Was sich aber mit der Technik ändere, sei das "paradox of choice". Zum ersten Mal in der Geschichte haben wir richtig Auswahl und sind nicht mehr an unseren Stamm, unsere Klasse oder unser Dorf gebunden. Und haben eben auch Rechner mit erotischen Stimmen oder Roboter mit Silikonüberzug zur Auswahl.
Die Entscheidung in Sachen Verliebtsein ist nicht technisch beeinflussbar. Die für Liebe zuständigen Gehirnregionen seien tief im Gehirn versteckt, "way below the limbic system", unerreichbar für technische Steuerung. Dieser Teil des Gehirns ist zuständig für das Wesentliche: Fressen, Schlafen, Antrieb, Verlangen. Kurz gesagt: Kein Computer der Welt kann uns einen Apfelkuchen schmackhaft machen, wenn wir gerade Lust auf Gewürzgurken haben. Andererseits gilt auch, dass wir die Liebe unseres Lebens nicht mehr unbedingt verpassen müssen, weil sie in einer Fischerhütte auf den Faröer Inseln gerade ein Sabbatical nimmt. Hauptsache, sie hat WLAN.

Praktische und pragmatische Bedürfniserfüllung
Doch vielleicht brechen ja auch gerade Zeiten an, in denen wir uns ein etwas pragmatischeres Verhältnis zur "großen Liebe" zulegen sollten. In Sachen positiver Glückshaushalt, so Fisher, würde einiges dafür sprechen, nicht alles auf die eine große Karte zu setzen. Bedürfniserfüllung könne heute schließlich ganz praktisch gestreut und dank Sharing Economy auch kollektiv und temporär genossen werden.
So waren die Liebes-Technik-Angebote auf der letzten re:publica denn auch eher sportiver Natur: Es gab etwa Vibratoren, die, neben sexueller Stimulation, auch den Beckenboden trainierten. Man steuerte sie mit einer App, die wie beim Joggen die Leistung aufzeichnet. Verrückt? Klar. Aber kein Grund, beim anschließenden Flur-Chat nicht jemanden zu treffen, den man ganz unpragmatisch anhimmeln möchte. Die technische Revolution hat den Markt der Möglichkeiten lediglich erweitert. Wie wir sie zu nutzen gedenken, liegt ganz bei uns. Schließlich wussten schon unsere Großeltern: Liebe geht seltsame Wege. In Zukunft wird sie mehr Platz haben.